1. Sonjas Geburtstag
Über ein halbes Jahr nervt die mongoloide Sonja ihre Umgebung mit der Behauptung, sie dürfe jetzt noch nicht nachhause gehen, weil dort noch eine Sitzung stattfinde, bei der sie nicht stören dürfe. Gefragt, was denn an dieser Sitzung besprochen werde, rollt sie die Augen über die dumme Frage und sagt: “Über meinen Geburtstag natürlich.!”
2. Myriams Schockolade
Myriam ist leicht behindert, spricht indessen gestochen scharf. “Was habt ihr heute gemacht?” Sie: “Schokolade verpackt, so in kleine Schachteln”. “Ja und, hast du auch genascht von dieser Schokolade”? Entsetzt schaut sie mich an: ”Aber nein, die ist doch nicht koscher.”
3. Bargeld der alten Frau
Es ist Freitagabend, Autoschlangen überall in der Stadt. Sie ist uralt, fast haarlos, leicht behindert, geht gebückt an einem Rolator, wie das Gehwägelchen bei einigen heisst, und sie will zu dieser Stosszeit zurück in ihr Altersheim.
Zuerst ist sie im Grossverteiler nicht auffindbar und dann will sie noch in der Drogerie eine Zahnpaste kaufen gehen – als ob es das im Grossverteiler nicht gäbe. Sie nervt mich. Am Ende der Geduld stelle ich die Taxuhr ein.
Als sie endlich nach der Drogerie im Auto sitzt muss ich sie nach der Zahlungsweise fragen, weil wir auf die Gutscheine einer Behindertenstifung keine Wartezeit abrechnen dürfen und weil ich urteile, dass sie wahrscheinlich mit so einem Gutschein zahlen wird. Leicht entsetzt und überraschend vital sagte sie mit aufgesperrten Augen: ”Bar!”
Weil die Bank – Stossverkehr – schon geschlossen hatte, fand sich am Ende nicht genug Bargeld in ihrem zerknitterten Portemonnaie. Mir waren die paar fehlenden Rappen egal, aber sie verschwand fast im Boden, so schämte sie sich.
4. Brigittes Redestrom
Brigitte ist mental behindert. Auf der langen Taxifahrt von der Maltherapie in ihr Heim redet sie unablässig und in einem gleichförmigen Singsang. Darin schwimmt vieles mit: Fragen, die man an sie gerichtet hat, Urteile über ihre Zeichnungen in direkter Rede – "Brigitte, das hast du gut gemacht!" – und viele Redensarten, darunter: “Wenn du sagst, dann wird es schon so sein!” und kurz vor dem Ende der Fahrt: ”Jetzt haben wir’s bald!"
5. Ehegeschichte
Als wir bei einer gesprächsreichen Stadtquerung bei der Kirche Fluntern vorbeikommen erzählt die vielleicht Fünfzigjährige unvermittelt und abrupt “Ja, hier haben wir jung geheiratet. Es ging nicht gut. Er hat getrunken.” Wie lange ging das? “Ich weiss nicht mehr, zwei Jahre vielleicht.”
6. Es lehrt einem
Ich leide unter ersten Altersbechwerden und staune deshalb über die Nachlässigkeit und Sorglosigkeit der Jüngeren. Die ältere Frau auf dem Weg ins Spital kontert: "Ja, aber das hat doch auch etwas schönes, diese Sorglosigkeit”.
Geredet wird mit denen, die reden wollen. Nach einem guten Gespräch fehlt es oft nicht an Feedback: Das war jetzt eine kurze Fahrt, das war jetzt aber interessant.
Mit Frauen findet sich viel leichter ein Gespräch, aber es gibt auch kommunikative Männer, vor allem die älteren Männer sind es.
7. Der gute Weg
Natürlich ist der gute Weg oft Thema. Ein junger Mann liess sich auf dieses Gespräch ein, er kannte die Stadt gut. Daraus wurde eine wilde Spekulation, die alle Varianten abcheckte. Am Ende aber resultierte ein ziemlich konventioneller Weg. Dennoch fand er begeistert, wir hätten einen superguten Weg gefunden.
8. Der schnelle Absturz
Die junge Frau stieg immer frühmorgens ein, direkt vom Kreisgebäude nebenan. Da holte sie einen Gutschein ab. Dann fahrt sie zur Stadtkasse – wirklich auch ein Schalter im Parterre des Stadthauses. Dort bekommt sie für diesen Gutschein Bargeld, mit dem sie auch das Taxi zahlt.
Bevor sie im Stadhaus verschwindet, hinterlässt sie sie routienemässig ihre Uhr. Sie rechnet mit dem Misstrauen. Sie ist verwahrlost. Sie habe als Buchhalterin gearbeitet, erzählt sie, eine Wohnung gehabt, einen Töff. Dann habe sie vor einem Jahr den Job verloren. “Jaja, es geht schnell!” kommentiert sie. Ich glaube nicht, dass sie noch lebt.
9. Das Alter und die Katzen
In einem entlegenen Aussenquartier hole ich eine alte Frau. Wie viele alte Frauen ist sie gepflegt angezogen, saubere Halbschühchen an den Füssen. Unterwegs erzählt sie, wie ihr eine Katze zugelaufen war. Diese Katze hat sie jahrelang begleitet. Jetzt ist sie gestorben. Sie wollte wieder eine Katze und ging ins Tierheim. Dort beschied man ihr, so alten Leuten gebe man keine Katze mehr. Darüber verfiel sie in wortlose Traurigkeit.
10. Frauenmehrheit
Es fahren viel mehr Frauen Taxi als Männer. Sie werden alt und sind dann oft auf ein Taxi angewiesen. Oft ist es eine wortreich erzählte Niederlage, wenn sie den öffentlichen Verkehr nicht mehr benutzen können.
Das auslösende Ereignis ist oft ein kleiner Unfall beim Ein- und noch öfter beim Aussteigen.
Eine hat erzählt, dass sie sich, schon aufgestanden für ihre Ausstiegsdestination, bei einem etwas stärken Stop des Buses nicht mehr halten konnte, umfiel und sich verletzte.
Die konkrete Geschichte rollt sich natürlich aus auf dem Weg zur Therapie.
11. Der verständnislose Gatte oder Frauen dieser Generation oder Licht auf die Ärzte
Sie keucht und schnaubt und sitzt sie endlich im Taxi, erholt sie sich lange nicht. Schon als junges Mädchen litt sie darunter. Oft fiel sie wie ohnmächtig hin. Nein, ihr verstorbener Gatte hätte dann beschieden, sie solle sich zusammenreissen. Aber bei den Doktoren half ihr auch keiner. Ein Leben lang hatte sie keine richtige Diagnose und keine Therapie. Aber sie gibt auch zu, nie insistiert zu haben. Als Frau hätte sie das doch nicht gekonnt!
Jetzt hat sie eine technische Atemhilfe und einen Platz im Pflegeheim. Ein junger Arzt hat sie endlich ernst genommen und ihr geholfen, jetzt, wo sie eine alte Witwe ist.
12. Der Kampf um Selbständigkeit
In Ihrer Wohnung riecht es unangenehm. Sie ist schwer behindert, wahrscheinlich durch einen Unfall oder einen Hirnschlag. Ihre Artikulation ist so fahrig, dass ich kein Wort verstehe. Sie kann sich nicht mehr zureichend um ihre Wohnung kümmern, hält aber dennoch weiterhin eine Katze und sie hat Lippenstift aufgetragen, der leicht verschmiert ist. Als ich sie erstmals abholte, fiel sie rückwärts ins WC-Räumchen bei der Eingangstür.
Sie rappelte sich hoch und nach einer Viertelstunde sass sie im Taxi.
13. Eine schöne Frau
Noch heute ist sichtbar, dass sie als Frau eine Wucht war: Ein schönes Gesicht, gross, schlank, sportlich, gut geformt und wahrscheinlich erfolgreich im Beruf. Sie erzählt mit Bitterkeit in der Stimme, dass der Bluthochdruck behandelt wurde, als sie ein Hirnschlag traf, der sie halbseitig gelähmt zurückliess.
Körperlich behinderte und altersgefällte Leute hadern oft überhaupt nicht mit ihrem Schicksal. Es sind oft fröhliche und zufriedene Persönlichkeiten. Mein Bild für diese Kategorie ist der alte und gemütliche Mann im Rollstuhl, der mit der jungen Praktikantin scherzte, die ihm beim Pflegeheim einzusteigen half, und zwar zur Fahrt in die Podolgie.
Dann und wann aber trifft man Verbitterte. Der junge Mann z.B. der in den Balgrist zur Therapie fährt, ist im Rollstuhl, behandelt alle aggressiv, redet düster und beklagt sein Schicksal.
14. Schwierige Feindschaft
Sie wohnt in einem schlechtbeleumdeten Quartier. Sie will quer durch die Stadt zu einer Kantonalbank, die sie kennt, auch wenn es bei diesem Filialnetz weit näher möglich wäre. Das Gespräch läuft gut, aber plötzlich faucht sie mich ganz laut und hasserfüllt an, sie wolle in ein Kaffee in ihrem Quartier. Sie war noch nicht in der Bank, aber ihr Handy hatte geläutet. Über die Routenwahl faucht sie noch ein paarmal, zeigt sich aber zufrieden, als sie dennoch aufgeht. Dazwischen erzählt sie mir ihr interessantes, transnationales Berufsleben. Jetzt läuft sie gebückt an ihrem Gehwägelchen und ist phasenweise unleidig. So offene Feindlichkeit beschert mir erhebliche Schwierigkeiten. Als sie mich aus ihrer roten und rissigen Lederhandtasche bezahlt hatte und wieder an ihrem Wägelchen hing, sagt sie indessen zu meiner Überaschung: “Ich hoffe, ich habe sie bald wieder als Chauffeur.”
Es war das letzte Mal, weil ich danach selbständig wurde und dabei die Kunden des alten Arbeitgebers aus den Augen verlor.
15. Neue Liebe
Manchmal reden die Fahrgäste nur untereinander, und nicht mit mir. Aus diesen Gesprächen schält sich zuweilen auch eine Geschichte heraus. So z.B. die folgende:
Es ist so um 0600 Uhr an einem Morgen im Herbst. Es ist noch dunkel. Ich hole eine Frau und einen Mann in einem Bezirk mit vielen Unternehmen ab.
Die zwei arbeiten schon einige Jahre im gleichen, nicht sehr grossen Betrieb. Sie kannten sich von den Namen her. Eine Kantine, wo man sich näher hätte kennenlernen können, gibt es nicht in diesem Betrieb.
Gestern Abend fand ein „gemütlicher“ Betriebsanlass statt. Als dieser zu Ende ging, zog eine Gruppe weiter, darunter diese zwei. Gegen Mitternacht oder noch später reden sie zum ersten Mal miteinander, sie verlieben sich und küssen sich zum ersten Mal. So bleiben sie redend sitzen, bis der Laden schliesst. Im Taxi geht von ihrer Seite eine fulminante Beschwörung über die Bühne. „Ich tue alles für eine Liebe, ich gebe immer 200%“ sagt sie und probiert damit, die neue Liebe zu festigen, ihn zu überzeugen. Es redet nur sie.
Als wir bei ihr in einem Aussenquartier ankommen, steigen sie aus. Sie rennen quer über einen hügeligen Rasen zur Haustür auf der anderen Seite.
Wahrscheinlich gingen die Läden dort erst am späten Nachmittag hoch. Ich wünschte ihnen mental viel Glück!
16. Let me in!
Ein älterer, aber noch aktiver, grosser, grauhaariger und gut angezogener Mann steigt ein. Es ist ein Amerikaner.
Dann telefoniert er während der ganzen Fahrt, mit der Sekretärin zuhause, mit seiner Frau, mit einem Freund. In diesen Gesprächen zeigt sich, dass er ein grossherziger, loyaler, liebes- und freundschaftsfähiger, witziger, umsichtiger, intelligenter und selbstsicherer, kämpferischer und erfolgreicher Mann ist, ein reifer und lebenserfahrener, ein grosser Mensch!
Als er bei einer Privatbank an der Bahnhofstrasse ausgestiegen war, schrie ich innerlich „Let me in! Ich will auch zu ihrem Zirkel gehören!
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Das harte, schnelle, gehetzte Geschäftsleben fordert viele Opfer, aber immer wieder kommt es vor, dass den Leuten der Humor deshalb nicht abhanden kommt, dass sie in einer wichtigen Ecke des Menschseins intakt bleiben. Dieser Typ legte dafür ein beredtes, eindrückliches Zeugnis ab.
17. Poesie
Ein alter Mann fuhr an einem frühen Abend im Dezember in den Ableger eines Altersheims im entlegendsten Quartier der Stadt, in Leimbach. Der Eingang wird über eine Rampe erreicht, die um eine Hausecke geführt wird. Es war bedeckt, trocken und schon dunkel.
Ich half dem Mann, seine Waren in sein Zimmer zu tragen. Das dauerte ein bisschen.
Als ich wieder herauskam, schneite es und überall lag schon feiner, weisser Schnee.
Ich genoss den poetischen Augenblick, zirkelte dann die jetzt gefährliche Rampe hinunter und fuhr guter Stimmung mit Klassik im CD-Player nachhause.
18. Anfang einer Businessliebe
Alle drei, zwei junge Frauen und ein junger Mann, arbeiten im Personaldienst einer grossen, internationalen Firma. Sie kommen von einem Meeting in Zürich. Alle haben eine andere Nationalität und einen anderen, nationalen Arbeitsplatz.
Der junge Mann erkundigt sich bei einer der Frauen, wie es einer Kollegin in ihrer Niederlassung gehe, der jüngeren von zwei Gleichnamigen. Die angesprochene Frau kennt diese Kollegin gut. Beide ergehen sich in einem Loblied über diese Kollegin. Wie gut es sei, mit ihr Zusammenzuarbeiten, wie kooperativ sie sei, wie gut sie den Ton treffe und wie vorbereitet und sachkundig sie sei. Ganz anders als die Ältere desselben Namens, die nie mit Quatschen aufhöre könne.
Der junge Mann bittet die Angesprochene, der Kollegin einen Gruss auszurichten. Oh, sagt die Angesprochene, sie hätte ihm vor Langem auch einen Gruss von dieser Kollegin ausrichten sollen. Sie habe es vergessen und bitte um Entschuldigung.
Diese Entschuldigung hat er nicht gehört. Er war stark enthusiasmiert und er zeigte das ganz offen und herzig mit Ahs und Ohs.
Irgendwann treffen sie sich wieder, die Kollegin und er. Die Annahme, dass sie mit einer Einladung rechnen kann, ist nicht weit hergeholt. Weil er ein höherrangiger HR-Mensch ist, wird er sie bald danach in seine Nähe befördern.
19. Mentaliätsunterschiede
Es ist ca. halb Sechs an einem Dezemberabend, also schon dunkel. Bei der Galerie Koller an der Hardturmstrasse hole ich einen jungen Mann ab. Zu zweit hieven wir ein kleines, textilverkleidetes und stickereiübersäätes Vollsteintischchen in den Kofferraum. Er wollte zum Bahnhof gefahren werden.
Der Mann kommt, wie er erzählt, aus Wien. Er interessiert sich für Antiquitäten. Da er nicht viel Geld habe, seien seine Chancen klein, an etwas Gutes heranzukommen. Hier aber habe er bei einer Auktion mitgeboten und zu seiner Überraschung den Zuschlag erhalten. Er stürzte sich in den Nachtzug, um dieses Steintischchen in Zürich abzuholen und dann in seiner Wohnung aufzustellen.
Bald indessen kam er auf sein drängendstes Problem zu sprechen: Wie sollte er das schwere Ding in den Zug heben? Ich riet ihm, einen jungen Mann anzusprechen und um Hilfe zu bitten. Was!? rief er aus, das würde in Wien nie funktionieren! Einen Schmäh würde er zu hören bekommen! Auf keinen Fall wäre jemand bereit, ihm in dieser Lage zu helfen. Ich war ziemlich sicher, dass das hier kein Problem sein würde. Er schien zu zweifeln. Ich gab ihm meine Nummer mit der Bitte, mich anzurufen und zu berichten, wie es gelaufen war.
Zusammen luden wir das ersteigerte Ding auf einen Gepäckrolli und er verschwand im Bahnhof.
Später rief er an: Er habe sofort einen gefunden, der geholfen habe. Als sie selbst zu zweit Mühe hatten, das schwere Ding in den hohen Zug zu laden, sei ein Dritter spontan dazukommen, um zu helfen.
Als Bestätigung hat kürzlich hat eine gehbehinderte Frau erzählt, wie sie auf auch für sie erstaunlich leichte Weise Hilfe finde, um ihren Rollator in den Bus zu laden.
20. Nur der Anfang einer Geschichte
In einer Arztpraxis hole ich eine vielleicht 60-jährige Frau ab. Sofort sind wir in einem Gespräch. An einem Punkt in diesen Gespräch sagt sie, dass sie seit vierzig Jahren in derselben Wohnung wohne. Später ergänzt sie, in dem Haus, wo sie wohne und wo wir hinfahren, gebe es 40 oder 60, ich erinnere mich nicht mehr genau, 1 1/2-Zimmer-Wohnungen.
Zusammengefasst: Mit Zwanzig ist sie in eine 1 1/2-Zimmer-Wohnung eingezogen, in der sie nun 40 Jahre lebt. Welche Geschichte steckt dahinter? Wir haben nur einen Anfang.
21. Keine Geschichte
Es kommt vor, dass man eine Zeitlang immer mal wieder die gleichen Kunden fährt. Plötzlich reisst die Serie ab. Was ist passiert? Es gibt statt einer Antwort nur eine Leerstelle und damit keine Geschichte. Sind sie gestorben? Sind sie weggezogen? Sind sie wieder gesund? Oder sind sie nur zur Konkurrenz abgewandert, weil sich einer von uns daneben benommen hat?
22. Ein Macho erzählt
Ein prächtiges Mannsbild kommt aus einem Bordell in Wollishofen. Hier, was er im Auto erzählt, hat, möglichst getreu, wie ich es erinnere.
„Oh, das war eine wirklich schöne 18-Jährige, mit weicher, makelloser Haut! Warum immer mit der Gleichen schlafen? Mir wäre das zu blöd, zu langweilig. Fast wäre es mir zugestossen, fast hätte ich einmal geheiratet, aber ich bin rechtzeitig ausgestiegen. Nein-Nein, Abwechslung ist viel besser. Meine damalige Braut hat mich kürzlich angerufen, um ihre Hochzeit mitzuteilen, mit einem Tunesier. Ich habe ihr Glück gewünscht und gedacht: Lieber er als ich! Für das Geld, das eine Ehefrau kostet, kann ich viele Frauen oft dick ausführen und einladen. Wer sich so sexy anzieht - er zeigt auf eine junge, grosse, schöne Frau auf dem Trottoir - , die sucht sicher einen Versorger. Nicht mit mir! Freundinnen sind aber etwas Gutes: Sie können sich mal an meiner Schulter ausweinen, ich an ihrer. Aber deshalb muss man nicht heiraten.“
Er will an die Bahnhofstrasse, für einen Apéro. Ich lade ihn beim Paradeplatz aus.
23. Prekäres Gleichgewicht
„Ich konnte es nie satt werden zu bewundern, wie er eine so tiefgründige Traurigkeit mit einem so tatkräftigen Mut verband.“ Aus „Fron und Grösse des Soldaten“ von Alfred de Vigny.
Vier Gäste sitzen in meinem kleinen Auto. Die Beengung verschwindet in dieser Situation fast immer hinter den Gesprächen. Es geht zum Flughafen.
Diese Vier kamen aus einem Meeting. Zuerst muss also besprochen werden, was da vorfiel, es müssen die besprochenen Projekte diskutiert werden und es werden die Akteure durchgehechelt. Dann aber stellt die einzige Frau dem Senior die Frage, was Reisen für ihn bedeute. Hier seine Antwort:
„Ich bin immer gereist. Als ich dann selbständig war, bin ich nicht an Projekte herangekommen, die diese internationale Dimension hatten. Darum habe ich mich wieder anstellen lassen. Es ist nicht gut, wenn ich fünf Tage zuhause übernachte, obwohl es eine schöne Wohnung ist. Die Woche wird dann sehr lang, das Reisen verkürzt die Zeit.“
24. Homo homini lupus*
Vor allem in amerikanischen Firmen gibt es das Partnerschaftsystem. In einer normalen Hierarchie wird einer befördert, nach dem Peter-Prinzip bis zu einem Job, den er nicht mehr gut erfüllen kann. Das Partnerschaftsystem führt demgegenüber eine scharfe Grenze in die Hierarchie ein, mit blauem Himmel oben und düsterer Hölle unten. An dieser Grenze nehmen diese Firmen viele Turbulenzen in Kauf. Das ist so eine Geschichte.
Mein Gast sitzt am Freitagabend auf der Fahrt zum Flughafen hinten und telefoniert mit etwa drei Leuten zuhause, wo er hinfliegt. Er ist transparent in dem Sinne, dass er allen sagt, mit wem er auch noch redet. Daraus ergibt sich folgendes.
Einer, im Anschluss an Joseph Heller können wir ihn Slocum nennen, hat sich angemeldet, um als Partner aufgenommen zu werden. Das löst eine Informationssammlerphase der bestimmenden Leute aus, die vor allem aus Gesprächen bestehen. Er kommt von diesen Gesprächen. Bei den meisten zeigt der Daumen danach nach unten. Aus andern ähnlichen Abläufen weiss ich, dass das Codewort „fehlende Stärke“ heisst. So auch in diesem Fall.
Mein Gast hat mit seinen Telefonpartnern das Vorgehen abgesprochen. Daraus geht hervor, dass er selber Slocum am Samstag telefoniert. Er sagt ihm, dass sie ihm einen Auslandjob anbieten, aber ihn dort auch nicht als Partner empfehlen werden. Wenn er einen anderen Job suchen will, ist das willkommen. Die nächsten drei Tage dürfe er nicht im Büro erscheinen – um Unruhe dort zu vermeiden, wie er in seinen Telefongesprächen argumentiert. Ausserdem warten noch andere auf ein Nein, nur wissen sie es noch nicht.
Ausserdem wird er von allen Verteilern gestrichen und sein Email wird ausgesetzt.
Der Telefonierer ist vielleicht 45, im Gesicht ist er 55, um den Mund ist er 65. Haben ihn diese Gespräche zermürbt, die er vielleicht jeden Monat führen muss?
Wir stellen noch fest, dass in normalen Hierarchien im Prinzip nie Nein gesagt werden muss. Geredet wird nur, wenn sich ein Ja aufdrängt. Am Wölfischen ändert oft auch das nicht viel, wie z.B. der Fall Zürcher Kantonalbank** vor einigen Jahren gezeigt hat.
* Der Mensch ist des Menschen Wolf. Die Hölle, das sind die anderen, wie J.P. Sartre sagte.
** Ein Mann erschiesst seinen Vorgesetzten, der den Täter in die Bank geholt hatte.
25. Der Unternehmer O.
Die Geschichte ist vielleicht ein kleines bisschen ausgeschmückt. Er war bei meinem alten Arbeitgeber oft mein Fahrgast.
Der Unternehmer O. hat eine Firma im Kunstoffbereich betrieben. Es lief wie geschmiert. Er wohnte mit seiner schönen Frau und zwei hübschen Töchtern in einem grossen Einfamilienhaus, er ging mit seinen eigenen Hunden im Ausland auf die Jagd, er wirkte als Hobbykoch und im Mittelmeer lag seine schnelle, zweimastige Segelyacht.
Dann machte einer seiner grossen Kunden Konkurs, ein anderer verlegte seine Fabrik ins Ausland und der dritte grosse Kunde konnte nicht verhindern, dass auch der Unternehmer O. Bankrott machte. Auch sein privates Idyll löste sich auf. Seine Töchter aber hielten zu ihm und eine der Hübschen war mal dabei, als er zu einem Doktor fuhr.
Aber O. blieb Unternehmer, jetzt halt in eigener Sache. Um sein restliches Geld zu strecken, wanderte er nach Ungarn aus und als geborener Zürcher lernte er Ungarisch. Aber das Schicksal verfolgte ihn: Durch eine Krankheit verlor er ein Bein.
Invalid, wie er nun war, kam er zurück in die Schweiz. Die Stadt kümmerte sich um ihn und brachte ihn vorerst in einem Hotel unter. Auch invalid blieb O. Unternehmer: Er half umgehend, das Hotel in Schuss zu halten: Er wurde ihr Stromer. Irgendwo hatte er auch das gelernt.
Dann offerierte ihm die Stadt eine kleine Wohnung in System der Stiftung für Alterswohnungen, eine kleine, hübsche, alte Anlage im Norden der Stadt. Dort stiess er auf ein paar alte Frauen, die schon länger dort wohnten und Trübsal bliesen. O. müsste keine Unternehmer sein! Jetzt jedenfalls jassen sie jeden Nachmittag, eine der Frauen backt einen Kuchen, später gehen sie zum Weisswein über, sie haben es lustig, O. erzählt Anekdoten aus seinem reichen Leben, sie reden viel und fallen abends müde, zufrieden und ein wenig beschwipst ins Bett, um es morgen wieder lustig zu haben.
O.: Einmal Unternehmer, immer Unternehmer, Schicksal hin oder her! Er hat sich dem bitteren Schicksal offensiv gestellt, nichts hat in verbittert gemacht.
26. Männergeschichten
Zwei Aspekte lassen sich von Männern gefahrlos behaupten: Die Funktionsphilie und die Offensivität. Diese zwei Geschichten erzählen vom zweiten, der Offensivität, in der Initiative, Mut, Frechheit, Alertheit, Offenheit enthalten ist, Offenheit für Möglichkeiten.
1. Dreifach falsch, aber folgenlos
Ich fuhr eine Zeit ein privates Büs'chen, das einen Shuttle-Service für eine Firma durchführte, vom Bahnhof zum Firmensitz. Es steht als einziges Büs'chen hinter dem Bahnhof, ist viel kleiner als die öffentlichen Busse und es ist nicht mit einer Busnummer versehen.
Am Bahnhof steigt ein neues Gesicht ein. Das kommt öfter vor, weil es eine internationale Firma ist. Dieser Mann indessen blieb bei der Ankunft unschlüssig im Bus. Als ich ihn ansprach erzählte er, er habe den Bus für einen öffentlichen Bus gehalten und er habe zu einer Sportanlage fahren wollen. Er war also schon auf der falschen Seite zum Bahnhof hinausgegangen. Nun, sagte ich ihm, die Sportanlage sei in der anderen Richtung. Darauf er: Es hätte ja sein können, dass dieser Bus zum seinem Ziel gefahren wäre.
Ich nahm in zum Bahnhof zurück und schickte ihn zu den Bussen auf der anderen Seite des Bahnhofs. Es hat ihn nichts gekostet.
2. Der Schleichweg
Dieser Schleichweg kann an einigen Abzweigungen angezapft werden. Die letzte Möglichkeit besteht allerdings bereits in Sichtweite des Staus am neuralgischen Punkt, dem ausgewichen werden soll.
Dort, also ganz zuletzt, zweigte ich an einem Winterabend ab und fuhr meinen Schleichweg. Beim nächsten Verkehrslicht an einer Hauptstrasse stürmte der Fahrer des Fahrzeuges hinter meinem zu mir vor mit einen kurzen Dank dafür, dass ich ihm einen neuen Schleichweg gezeigt habe.
Ich staunte bei beiden nicht schlecht über diese Unverfrorenheit, dieses Ultraschnellentschiedene und diese letztlich richtige Risikoeinschätzung. Der Schleichwegentdecker hatte mein Abzweigen als Taxi und den Stau vorne blitzartig kombiniert, die Gesamtsituation nullkommaplötzlich richtig gelesen, zeitverzugslos entschieden und auch den Blinker gestellt. Ich kann es mir nicht verkneifen zu sagen: Grossartig!
Auch die Geschichten 19, 22, 23 und 25 enthalten Elemente dieser Offensivität.
27. Sic transit gloria mundi
Die Vergänglichkeit ist oft schwer zu ertragen. Eine alte Frau fährt vom Doktorbesuch in die nahe Wohnung, weil sie nur noch eingeschränkt gehen kann. Auf diesem kurzen Weg klagt sie bitter und immer dem Weinen nahe, was sich seit einem Jahr für sie verändert hat:
"Vor nur einem Jahr habe ich noch fröhlich und gut mit meinem Mann zusammengelebt. Wir hatten ein Auto und wir machten regelmässig Ausflüge damit und wir gingen damit einkaufen. Abends habe ich etwas Kleines gekocht und wir tranken ein Glas Rotwein dazu. Ich war noch ziemlich gesund. Dann ist im Herbst plötzlich und unerwartet mein Mann verstorben. Kurz danach bin ich schwer erkrankt und jetzt kann ich kaum mehr gehen. Es war noch so schön letzten Sommer, alles war in Ordnung, die Zukunft war intakt. Jetzt kann ich nicht mal mehr selber einkaufen, weil ich zwei Stöcke brauche und nur wenige Meter am Stück gehen kann. Und ich bin einsam und allein! Alles Schöne ist untergegangen. Es ist so traurig, alles!"
Ich konnte ihr nicht helfen.
28. Young hearts are foolish
Eine junge, feingliedrige, kleine, blonde und hübsche Frau fährt mit ihrem Kindergärtlersohn zum Flughafen. Das ist ihre Geschichte:
Sie stammt aus einem südlichen Land. Sie ist in die Schweiz arbeiten gekommen. Hier hat sie einen Landsmann kennen- und lieben gelernt. Nach der Heirat startete ihr Mann ein eigenes Unternehmen. Sie als gelernte Buchhalterin führte das Büro und machte die Buchhaltung. Sie hielt ihm den Rücken frei, wie man so sagt. Ihr Sohn kam auf die Welt und das Unternehmen begann nach schwierigen Anfängen zu florieren. Alles war geritzt, sie hatten eine schöne Zukunft vor sich. Ihr Sohn hätte hier gute Chancen gehabt.
Aber sie fuhr zum Flughafen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Sie ist geschieden und sie hat in ihrem Herkunftsland einen Job gefunden.
Young hearts are foolish, they throw their love away!*
"Young hearts are foolish, they make such mistakes". Aus: Fairground Attraction, "Perfect"
29. Das Ende ist in Sicht
Diese Geschichte stammt vom gleichen Morgen wie die vorangehende. Manchmal fällt uns Strassenmenschen das Leben mächtig an.
Ich habe sie auch schon abgeholt. Er am Rollator, sie an zwei Stöcken. Ihre Zweisamkeit ging an diesem Morgen zuende.
Sie haben einen ziemlichen Weg zum Taxi. Diesmal dauerte es noch länger als üblich. Ich ging nachschauen. Er kam nicht mehr weiter. Er kniete vor seinem Rollator. Zu zweit, ein anderer Mann war dazukommen, konnten wir ihn nicht aufheben. Als die Ambulanz aufgeboten war, ging sie einen Schirm holen. In dieser Zeit fiel er ganz um. Ich hinterliess meinen Kindersitz als Kopfunterlage und machte Platz für die Ambulanz.
Wenn einer den anderen nicht mehr aufheben kann, wenn er hinfällt, dann ist üblicherweise das Pflegeheim die nächste Station. In ein Pflegeheim kommt man als Täxlerer selten, ohne das eine frische Todesanzeige am Anschlagbrett hängt. Es ist für viele ihre letzte Station. Das ging mir bei diesem defekten Mann, der bei klarem Verstand war, durch den Kopf, und es machte mich traurig.
In den ersten Wochen des Jahres 2012 fand sich in der Zeitung eine Todesanzeige.
30. Wo bin ich?
Ein junger Mann winkt mich heran. Er will zum dem relativ neuen Standort der UBS im Oberhaus an der Gessnerallee fahren. Das wusste ich noch nicht, denn er sagt nur die Adresse inklusive einer Hausnummer. Ich beginne laut zu spekulieren, wo das etwa sein könnte. Darin kommt der Basisgedanke vor, dass die Hausnummern vom See her gezählt werden. Darauf er: "What, there is a lake in Zürich!"
Er war schon einige Male in Zürich gewesen. Immer eine Hetze vom der einen in die nächste Sitzung. Den See hat er dabei nicht entdeckt.
31. Eine Besonderheit der Frauen
Die folgende Erfahrung habe ich nur mit Frauen gemacht. Es betrifft natürlich nicht alle Frauen. Dasselbe Verhalten habe ich von Männern noch nie erlebt. Es geht um das Ausleben von Nervosität.
Wenn die verbleibende Zeit nicht reicht oder nicht zu reichen droht, um rechtzeitig anzukommen, dann werden viele nervös. Einzelne Frauen flippen dann völlig aus, stöhnen bei jeder Verzögerung durch ein Rotlicht laut auf, quengeln und atmen schwer, rutschen auf dem Sitz hin und her, werden unansprechbar, hadern lauthals mit ihrem Schicksal, kritisieren die Routenwahl, glauben, mit einem anderen Verkehrsmittel schneller ankommen zu können. Sie reden unablässig und oft im Kreis herum; die Klagen wiederholen sich. Ihr Lamentieren nimmt kein Ende. Sie schweben auf ihrer ausgelebten Nervosität wie auf einem fliegenden Teppich unter Verlust der Bodenhaftung. Sie sind unansprechbar und darum auch nicht zu beruhigen.
In zwei von drei erlebten Fällen reichte die Zeit aus, wir kamen also rechtzeitig an. Der gefühlsmässige Aufruhr war also meist vergebens.
Beim letzten Fall erzählte ich die Erfahrung einem männlichen Fahrgast. Der Gast erzählte darauf folgende Geschichte: Er holte am Flughafen in Berlin eine Freundin ab und zusammen fuhren sie im Taxi in die Stadt. Da plötzlich vermisste diese Frau ihre Handtasche und sie begann Zeter und Mordio zu schreien und unablässig laut zu lamentieren. Seine beruhigenden Einwände hörte sie nicht bis sich der Taxichauffeur umwandte und sie anschrie: "Halten sie endlich mal die Klappe!" Das hat geholfen. Sie rief an und vereinbarte, wo sie anderntags die inzwischen gefundene Tasche würde abholen können.
Weil man als Taxichauffeur immer ein bisschen um Ruhe und Ausgeglichenheit kämpft, gibt es kein stärkeres Gift als einen ungehemmt nervösen Gast. Im Auto kann man sich kaum abgrenzen. Meist dauert es mehrere Stunden, bis ich nach so einer Attacke meinen Frieden wieder gefunden habe.
Nachtrag vom 15.09.2011. Der Spiegel (Nr. 37 vom 12.09.11) berichtet auf Seite132 unter dem Titel "Hibbelige Frauen" von britischen Forschern, die 15000 Leute untersucht haben, die regelmässig mit dem ÖV pendeln. Frauen kommen beim Pendeln viel weniger zur Ruhe als Männer. Frauen sind viel öfter nervös.
Nachtrag: Ein Erklärungansatz: Weiter unten gibt es zwei Bilder von den Gehirn-Prozessen und Verkabelungen bei Frauen und Männern. Darin lässt sich sehen, dass bei Frauen die seitenquerenden Beziehungen das Wesentliche sind, während bei Männern die seitengetrennten Längsbeziehungen herausstechen. Das nervöse Flattern bei Frauen ist ein hin- und her zwischen Logik und Intuition. Ausserdem ist der Weg zur Aktion für Frauen beschwerlicher, weil die Beziehungen zum Umsetzungszentrum hinten im Gehirn fast brachliegen. Die Männer schlagen sich mit einem Gedanken auf eine Seite, um dann in Ruhe abwarten, was noch geschieht, egal ob die Zeit reicht oder nicht. Sie werden nach der Ankunft beschliessen, was jetzt am besten zu tun sei. Quelle für das Bild: Economist 2013/49 S. 74. Die Forschungsarbeit dahinter kommt von Ragini Verma von der University of Pennsylvania
32. Kleine Ursache, schlimme Wirkung
Sie hatte sich im Leben eingerichtet. Im Sommer servierte sie im Tessin, im Winter in Zürich. Immer in anderen Beizen, dort wie hier. Die Instabilität gefiel ihr, sie nannte sie willkommene Abwechslung. Sie war noch jung, kaum dreissig.
Servierfrauen und -männer können gut leben von ihrem Verdienst, aber reich werden sie nicht. So versuchte sie, dort zu sparen wo es sich anbot. Die Freundin einer Kollegin bot ihr eine Fuss- und Nagelpflegebehandlung an. Immer auf den Beinen war das willkommen. Bei dieser Behandlung entstand eine Infektion. Als sonst kerngesunde Person verpasste sie eine rechtzeitige Arztkonsultation. Im Ergebnis verlor sie das rechte Bein. Es musste bis unter dem Knie amputiert werden.
Ein wenig haderte sie schon, aber umgehauen hat es sie nicht. Sie fand es reizend, dass sie immer noch die Beine kreuzen konnte.
33. Ein alter Mann zetert
Den Namen der Bank, wo er hinfahren wollte, hatte er vergessen, aber das Rückgeld hatte er blitzschnell berechnet. Er ist Holländer, achtzig Jahr alt. Er redete fast ohne Punkt und Komma. Das ist, was er sagte, vorausgesetzt ich habe ihn richtig verstanden und stark verkürzt:
„Gestern haben sie mich in ein anderes Hotel verschoben, weil sie doppelt gebucht hatten. Mit der Schweiz geht es auch zu Ende. Ich bin mit viel Achtung vor der Schweiz aufgewachsen und ich habe hier die Matura gemacht. Die Schweizer passen sich nicht mehr an. Die Gesellschaft ist zerfallen. Dass die Frauen mehr zu sagen haben, hat auch nichts geholfen. Die Schweiz gefällt mir nicht mehr. Sie ist zu fett und zu träge geworden, vom Luxus korrumpiert.
Jetzt ist ihr Geld viel wert und sie kaufen in Deutschland, was sich anbietet. Verräter sind das. Ich weiss seit dem 2.Weltkrieg, was Verräter sind. Damals waren die Schweizer schon Hasenfüsse, man wisse ja nicht, sagten sie, ob Hitler gewinne.“
Ich frage dazwischen, woran sich der Schweizer denn anpassen müsse.
„Gerade das ist es: Sie wissen nicht mehr, wo man sich anpassen muss und wo nicht. Die Männer sind keine Männer mehr und die Frauen verstehen davon nichts.“
Als er bezahlt hatte, meinte er entschuldigend, er habe es jetzt wieder einmal sagen müssen. Ich beruhigte ihn: Wir Taxifahrer bekämen vieles zu hören.
Ausgestiegen bemerkte er mit polemischem Unterton, er gehe jetzt zu dem Geld schauen, das zufällig ihm gehöre und nicht der Bank.
34. Ein psychisches Drama
Zu noch dunkler Stunde hole ich einen Arzt ab, der zum Flughafen will. Weil ich fälschlicherweise bei der Praxis vorbei ging, wusste ich, dass er sich für eine Fortbildung abgemeldet hatte. Es hing ein Zettel an der Haustür.
Ich weiss nicht mehr genau und im Einzelnen, wie wir darauf gekommen sind. Jedenfalls erzählte er, dass er nie gut schlafe. Dann setze er sich an den Computer und recherchiere. Er arbeite an einem wissenschaftlichen Thema. Vor fast zehn Jahren hat er begonnen, seine Schlaflosigkeit zu ergründen. Vor etwa fünf Jahren half ihm ein Buch entscheidend weiter, ein Buch über Angstzustände. Er sei als kleines Kind oft zu einer Tante in die Berge verstellt worden. Eines Abends als er fünf Jahre alt war, verkündete ihm seine Mutter, er müsse am folgenden Tag alleine in die Berge fahren. Die folgende Nacht ist zum Horrortrip geworden, inklusive Fäkalien im Bett. Er sei so falsch konditioniert worden und das sei der Grund für seine Schlaflosigkeit. Im Kern sei es eine Angst vor der Nacht.
Er hat noch anderes erzählt gegen den Flughafen immer schneller: Er arbeitet viel, Schlafmittel funktionieren nicht, eine Tante hat im später erzählt, was vor dieser schlimmen Nacht bei seinen Eltern passiert war, der Sauerstoffgehalt werde zu wenig erhoben, ausser von den Rettungssanitätern, der ÖV konnte ihn nicht rechtzeitig an den Flughafen bringen. Kurz: Es war ein Sturzbach. Wahrscheinlich lebt er alleine. Müdigkeit und Reisefieber löste die Zunge, das Taxi ist ein Kokon, er schliesst andere Zuhörer aus.
Die offene Frage ist, wie sich der Grund auflösen, dekonditionieren lässt. Er machte den Eindruck, dass er alles alleine lösen will. So weit ist er schon gekommen. Aber er schläft noch immer nicht gut. Es erstaunt, wie hartnäckig so eine Fehlkonditionierung in die Psyche eingeschrieben bleibt.
35. FIAZ
So heisst das Fahren im angetrunkenen Zustand bei den Juristen. Wenn junge Männer ein Taxi nehmen, dann drängt sich die Frage auf, warum sie nicht selber ein Auto fahren. An einem Morgen hatte ich zwei davon im Auto. Das sind diese zwei Geschichten.
Er war nach dem Ausgang mit dem Auto unterwegs nachhause. Er hatte sich zurückgehalten und nur wenig Alkohol getrunken. Alles lief glatt, er machte keinen Unfall und keine auffälligen Fahrfehler. Da plötzlich wurde er dennoch von der Polizei angehalten: Ein Licht funktionierte nicht am Auto! Es kann die Nachtstunde gewesen sein oder aber die Polizisten schöpften Verdacht, jedenfalls überprüften sie den Alkoholpegel. So verlor er seinen Fahrausweis für eine Weile.
Der andere junge Mann war stärker alkoholisiert. Er klatschte seinen Wagen gegen ein Objekt am Strassenrand. Das Auto fuhr indessen noch und er fuhr damit heim und stelle das demolierte Fahrzeug in die Tiefgarage. Unschlüssig, was damit zu tun sei, kaufte er ein neues Auto. Eines frühen Morgens an einem Samstag läutete es bei ihm: Die Polizei stand vor der Tür. Die Polizei trug Indizien zusammen und es genügte, ihm den Ausweis für ein halbes Jahr zu entziehen. Ein Nachbar hatte das kaputte Auto der Polizei gemeldet. Sie werden nicht Freunde.
Bei beiden war der Ablauf ganz frisch. Der Erste wusste noch nicht, wie lange es ihn treffen würde, beim anderen war der Entscheid 10 Tage alt.
36. Thematisches Wellensurfen, a way of Life!
Zwei noch junge Frauen steigen ein, keine Schönheiten und provinziell aufgemacht und angezogen. Sie fahren zum Flughafen.
1. „Zuletzt hat er sich abgefunden. Hast du gesehen, wie er ihr die Hand abgeschleckt hat? Alle haben sich drein geschickt, da blieb ihm nichts anderes übrig.“
2. „Das denke ich auch. Es blieb ich nicht anderes übrig.“
1. „Sie wird schon zurecht kommen mit ihm.“
2. „Das glaube ich auch, so, wie er sich zuletzt verhalten hat.“
1. „Das tut gut, keine Zahlenkolonnen, keine Abschlüsse." Ferien!
2. „Mir geht es genauso, ich freue mich. Siehst du den Riesenverkehr da drüben n?
1. „Ja, warum, warst du auch mal drin?
2 „Nein, aber ich höre es am Radio. Man muss schon aufpassen, vor allem in der Stadt. Auf der Autobahn ist es leichter“
1. „Da muss man auch aufpassen. Plötzlich stoppt einer oder er wechselt unversehens die Spur.“
2. „Schon, aber in der Stadt die vielen Velofahrer und Fussgänger.“
1. „Darum fahre ich nicht mehr Auto. Ausserdem: Wenn es regnet kann ich nicht fahren oder in der Dämmerung nicht. Also fast nie, da habe ich es aufgegeben. Obwohl, so ein kleiner Fiat 500, ferarrirot mit Ledersitzen, das wäre schon schön. Und nach X kämen wir auch schneller mit einem Auto. Aber nun, es geht auch so!“
2. „Ich fahre einfach lieber Autobahn. Wie machen wir es, wenn wir ankommen?“
1. „Wir nehmen wieder ein Taxi. Es ist nicht so weit“
2. „Oh, ich wäre lieber schon da!“
1 „Schon, aber jetzt warten wir erst mal ein paar Stunden am Flughafen! Wir müssen zum Terminal B, oder wie heisst er heute?
Ich: „Terminal 2. Sie sind nummeriert. Buchstaben gibt nur noch in den Spitälern. Stock C, D etc.“
1. „Ja genau. Ich war schon lange nicht mehr am Flughafen“ Kurze Pause.“ Ich zahle!“
1. „Nein-nein, das übernehme ich.“
Zahlvorgang
1. „Aus diesem Auto kann man gut aussteigen, besser als beim Auto von Papi.“
Und dann kommt das Einchecken, die Leute im Flughafen, die Preise im Flughafen, die Leute, das Angebot im Flughafen, die Leute, der Zoll, die Leute, das Boarding, die Leute, der Service an Board, die Leute, dann kommen Tränen, die Leute, die Krankheiten, die Leute, und dann der Tod. Fertig geredet.
War der Grund die Anwesenheit eines Dritten? Kaum. Das ist gut ersichtlich in anderen Geschichten, die hier stehen. Es bleibt dabei: Plappern als Way of Life!
37. Unkultur im Krankenhaus
Ich fahre eine junge Frau zufälligerweise mehrfach. Sie fährt zu unregelmässigen Zeiten zur Arbeit. Der Grund dafür liegt in der Geschichte, die sie mir erzählt hat.
Sie spürt eines nachts Schmerzen. Über die nächsten Tage wird es schlimmer und eines Nachts hält sie es nicht mehr aus und sie geht in den Notfall des Universitätsspitals. Als sie dort an die Reihe kommt, schicken sie sie mit guten Worten wieder Heim. Keine Untersuchung, keine Medikamente! Sie googlelt und sie findet einen Verdacht, was es sein könnte. Sie konsultiert einen Arzt, der in zwei Minuten herausfindet, was es ist: Ein subkutaner Abszess. Der Arzt meldet sie im Spital an und dort wird sie noch gleichentags operiert.
Die Genesung ist langwierig. Die starken Medikamente setzen ihr zu. Sie hat Spitex-Unterstützung.
Ein unbehandelter Abszess kann wahrscheinlich über eine Blutvergiftung zum Tode führen. Sie konfrontiert die Spitalführung mit der Fehlleistung der Notfallstation und sie verlangt eine Entschuldigung. Die erfahrenen Spitex-Leute sagen ihr, das werde sie nicht bekommen, eine Entschuldigung. Aber sie bekommt eine, eine mündliche, von der Spitaldirektion.
38. Ein armer Kerl
Beim Waidspital in Zürich hole ich einen kleinen, alten Mann ab. Er wird zu einem Pflegeheim am linken Zürichseeufer gefahren. Dabei erzählt er.
Er erzählt sein langes Leben, vor allem sein Berufsleben, das von vielen Wechseln und Wendungen geprägt war. Einmal hatte er sogar ein eigenes Café betrieben, aber auch als Knecht auf Bauernhöfen gearbeitet, in der Industrie und im Gewerbe. Er hat es nie auf einen grünen Zweig gebracht, trotz harter Arbeit. Aber das Wesentliche an dieser atemlosen Erzählung war, dass es in diesem Leben nie Trauer gab, keine Liebe, keine Freundschaften und keine Erleuchtung, er gab nur die geschichtslose, einsame Not. Darunter hat er nicht gelitten, weil er nichts anderes gekannt hat.
Jetzt ist er von Schmerzen geplagt, die von hoch dosierten Schmerzmitteln nur unzureichend bekämpft werden. Arthrose.
Im Pflegeheim wurde dieser gebeugte, bringe, einsame Schmerzensmann mit einer hellen und zuckersüssen Neonstimme begrüsst: „Grüezi, Herr Imhof, wir heissen sie herzlich willkommen und wir hoffen, dass sie sich bei uns wohl fühlen!“
P.S. Wie bei der Frau, die seit vierzig Jahren in einer Anderthalbzimmerwohnung lebt, frage ich mich auch in diesen Falle, wo die Träume geblieben sind, die Wünsche, und wo deren Kraft.
39. Das Verhältnis zu einem Schicksal
Es kommt oft vor, dass ein Dialysepatient im Taxi sitzt. An einigen Fällen soll hier gezeigt sein, wie divers die verschiedenen Betroffenen darauf reagieren.
1. Negativ
Sie war nicht mehr jung, über 60 sicher. Sie war oft mein Fahrgast und sie hat ihr Schicksal Dialysepflicht nur schwer ertragen. Eines Winterabends erzählt sie auf der Rückreise vom Spital, sie habe im Spital gesagt, dass sie nicht mehr zur Dialyse komme. Man habe sie davon abbringen wollen. Auf dieser Fahrt fanden wir noch heraus, dass sie die Tante eines Schulkollegen war. Dann sah ich sie nicht mehr. Als ich mich nach ein paar Wochen erkundigte, erhielt ich die Auskunft, sie sei gestorben. Sie hatte ihren Entschluss umgesetzt. Sie konnte nicht mehr leben mit der Dialysepflicht.
2. Neutral
Sie geht in einer Praxis in die Dialyse, nicht in einem Spital, immer am Morgen. Wenn sie nachhause kommt, hat ihr Freund gekocht. Sie freut sich darauf. Nach der Dialyse sind viele sehr müde. Sie schläft am Nachmittag ein paar Stunden, was ihren Freund nicht störe. Er gehe seinen Hobbies nach, was ihm recht sei. Gemeinsame Aktivitäten ausser Haus werden auf die pflichtfreien Tage gelegt. Sie lebt gut und zufrieden, sie ist ausgeglichen und fröhlich. Die Dialyse ist nichts Erfreuliches, aber das Leben lässt sie sich dadurch nicht vermiesen. Es bedeut nicht viel, sagt sie selber, weil sonst in ihrem Leben alles stimmt.
3. Positiv
Er lebt in einem Pflegeheim und er geht immer frühmorgens in die Dialyse, in ein nahes Privatspital. Er ist hoch erfreut über seine Lage, denn bei ihm wurde der Dialysebedarf viel zu spät entdeckt. Er wurde immer schwerer und er konnte sich nicht mehr bewegen, was ihn in den Rollstuhl zwang. Er fühlte sich mies und krank und invalid. Dann endlich fand ein Doktor heraus, was ihm fehlte. Jetzt ist er ein altes und bringes, sprich ein dünnes Männlein, das sich ohne Stock und Hilfsmittel bewegt. Er ist unendlich dankbar und hoch zufrieden, weil er wieder autonom ist und weil er sich nicht mehr krank fühlt. Er bräuchte das Pflegeheim nicht mehr, aber er ist einfach geblieben. Er ist dankbar, dass dass er in die Dialyse gehen kann.
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Vielleicht lief es bei ihm so holprig, weil er Ausländer ist, weil er nicht so gut deutsch spricht. Der Eindruck, dass Hippokrates mit Fremdsprachigen wenig Geduld hat, hat sich schon in anderen Fällen gezeigt: Die Frau aus Geschichte 37 ist auch Ausländerin, in England aufgewachsen, wahrscheinlich in einer indischen Immigrantenfamilie, kultiviert, gebildet, aber sie spricht kein Deutsch.
40. Aus der Prostitution
Weil ich um 0500 Uhr mit der Arbeit beginne, bin ich oft vom zu Ende gehenden Nachtleben betroffen. Dazu gehören Prostituierte. Zu dumm, dass die erste Geschichte damit nichts zu tun hat, mit der Zeit.
1. Wer ist Prostituierte?
Aus der Medien scheint klar, woher die Prostituierten kommen: Aus dem Osten vor allem, aus Südamerika. An einem sonnigen Nachmittag hohle ich an einer unverdächtigen Adresse im bürgerlichen Kreis 7 ein Frau ab. Im wunderschönen Jugendstil-Treppenhaus erst wird mir klar, dass sie aus einem Bordell kommt.
Sie ist Schweizerin und sie arbeitet als Kindergärntnerin. Wie ist sie zur Prostitution gekommen? Durch eine Kindergarten-Kollegin. Sie habe sie angesprochen und darauf aufmerksam gemacht. Sie habe es ausprobieren wollen und sie sei dabei geblieben für jetzt drei Jahre. Sie wolle indessen bald aussteigen. Sie findet es interessant und nicht unangenehm. Das Nebeneinkommen habe ihr viel ermöglicht, Auto, Ferien, eine bessere Wohnung. Aber es sei immer schwieriger, alles unter einen Hut zu bringen, obwohl die Tätigkeit im Bordell äusserst flexibel sei.
2. Komplizierte Kunden
Es ist eine Bestellung. Eine Prostituierte und ihr Kunde steigen ein, an einer Seitenstrasse der Langstrasse. Wir fahren zu seiner nahen Wohnung, von wo er mit einem kleinen Koffer zurückkommt. Dann zurück zu ihrer Absteige. Er wohnt ein paar Meter vom Paradeplatz entfernt direkt an der Sihl, mit Sicht auf einen alten Park, sehr aussergewöhnlich, wo es da nur noch Büros zu geben scheint.
Als er aus dem Auto ist sagt sie sofort: "Ich arbeite als Prostituierte und ich bin legal." "Das müssen sie mir nicht sagen, ich bin kein Polizist". "Ah ja, gut, stimmt." Sie muss auch wissen, dass man ihr ansieht, vom Outfit her, was sie tut.
An ihm ist sehr auffällig, dass er seine Beklemmung nicht ablegen kann. Er ist ein bisschen nervös, er verhält sich wie ein Ertappter, so, als ob er sich verurteilt fühlt, vielleicht vom einzigen Nichtbeteiligten als Verkörperung einer Allgemeinheit oder seines Überichs. Mit gesenktem Kopf zahlt er am Schluss und schiebt mir die Scheine hinüber als ob es Schwarzgeld wäre oder Hehlergut. Er kann sich offenbar nicht vorstellen, dass es mir vollkommen egal ist, was er tut und lässt.
Er verrät nicht, dass ich höchstens denke, er sei ein bisschen kompliziert, mit seinem Köfferchen, wo ich doch noch nie einen potentiellen Freier gesehen habe mit Köfferchen. An der Langstrasse und ihren Seitengässchen trägt niemand Köfferchen herum. Wichtig ist da nur, dass man genug Bargeld auf sich hat.
3. Walk the Line
Nicht weit vom Wohnort des Protagonisten der letzten Geschichte hole ich einen Mann in einem bekannten Bordell ab. Es ist Winter und noch dunkel. Zwei nackte Frauen schieben ihn in das Taxi. Er ist schwer angeschlagen, verladen. Aber er weiss, wohin er will: Zu seiner Wohnung, wo er mit seiner Frau am linken Seeufer wohnt, mit Seesicht. Von der Wohnung höre ich sie schreien: "Get a new shirt an go, go, go!". Er hat seine Kreditkarte im Auto verloren. Er erscheint wieder und wir fahren zum Bahnhof Enge, wo ich ihm helfe, einen Kaffee zu kaufen. Am Bancomat spricht er zwei junge Frauen an, die ihn anschauen und kichern. Er ist immer noch wîe betrunken. Er erzählt, dass er ein gefährliches Leben führe, dass Risiko liebe. Ich frage ihn, ob er ein Meeting habe. Nein, heute nicht, zum Glück. Er arbeitet bei einer Grossbank.
Später telefoniert mir seine Frau. Sie will mehr wissen. Aber sie stellt die falschen Fragen, ihre Arbeits- und Denkhypothesen sind noch viel zu weit von der Wahrheit entfernt. Sie erfährt von mir nicht, wo ich ihn abgeholt habe. Früher oder später wird sie erfahren, wen sie geheiratet hat. Es wird ein schwieriger Moment sein in ihrem Leben.
4. Verschlungene Wege
In einem Bordell in einer Seitenstrasse der Langstrasse hole ich am hellichten Tag einen vielleicht vierzigjährigen Mann ab. Er ist mit Drogen und Alkohol energetisch auf bedenkliches Niveau abgesunken. Am Schluss der Fahrt kann er nicht zahlen. Aber er versichert mit, er sei Zahnarzt und er müsse nur mal wieder ein paar Tage arbeiten, dann könne er alle Schulden zahlen. Ich notiere mir Namen und Adresse und lasse ihn ziehen. Ich glaube ihm nicht: Hochstapler!
Ein halbe Stunde später ruft jemand an, er zahle die Fahrt für diesen Zahnarzt. Dochdoch, es stimme, er sei Zahnarzt. Ich solle zu ihm kommen. Es ist ein Laden für Kaffeemaschinen. Warum übernimmt er diese Kosten? Der Zahnarzt sei ein Bekannter von ihm und er sei der Lieferant unserer Zentrale. Da dort seine Verbindung zu diesem Zahnarzt bekannt sei, könne er es sich nicht leisten, die Fahrt nicht zu bezahlen. Er wolle kein Risiko eingehen.
Wer soll das glauben? Die Zentrale war nicht, noch nicht informiert über die fehlende Zahlung. Die Zentrale würde zudem die fehlende Zahlung nicht dem Kaffeemaschinenhändler anlasten, sondern einzig dem Nichtzahler.
Aber es zeigt etwas anderes: Was sich die Firmeninhaber alles überlegen, um Risiken zu eliminieren! Auch das kleinste Risiko soll entdeckt und dessen Realisiung verhindert werden. Die Geschichte zeigt, dass das Risikobewusstsein bis zu einer deutlichen Unwahrscheinlichkeit vorgetrieben wird und selbst dort noch handlungsleitend wirkt.
P.S. 1 Kürzlich kaufte ich eine neue Kaffeemaschine. Da die alte Maschine am Wochenende den Geist aufgegeben hatte - Murphys Law kommt bezüglich der Zuverlässigkeit der Schwerkraft nahe - wollte ich am Montag eine Lösung finden. Ich ging zu diesem Kaffeemaschinenhändler. Er hatte den Laden am Montag geschlossen. Er ist von COOP, Migros und Denner umzingelt, von Apotheken und Detailhändlern, die alle am Montag offen sind. Auf dem Land, in einem Aussenquartier bitte, aber doch nicht an so einem Ort! Ich fand die Lösung in der Sihlcity, ein Einkaufszentrum, das wahrscheinlich 360 Tage offen stünde, wenn es legalerweise dürfte. So ein Risiko wird also verdrängt.
P.S. 2 Drogenreduzierte Personen sind mir in den letzten Jahren nur aus Bordellen begegnet. Zwei von den vier Geschichten zeigen solche Figuren. Sind die Bordelle bedeutende Drogenumschlagplätze? Wenn das stimmt, sind die Bordelle dann nicht auch ein Mafiaarm in die Wirtschaft? Hat man davon schon gelesen? Ich nicht.
Ergänzung vom 15.03.2017: Aus einem Bordell in der Nähe des Centrals ist letzte Woche ein Mann aus dem vierten Stock zutode gestürzt. Die Polizei ermittelt. Sicher ist nichts, aber ein Verdacht drängt sich auf: Drogen, Kokain vielleicht!
5. Aufgekratzt und fröhlich
In einer Aussengemeinde hole ich zwei Prostituierte ab. Sie sind äusserst fröhlich und aufgekratzt. Sie lachen über alles. Auf die Frage, was sie denn getrunken hätten, sagt eine, "ein Mixgetränk". Mit was den gemixt, frage ich weiter. Sie: Unter schwerem Lachen, "mit Alkohol". Es geht nicht ohne Drogen oder Alkohol, jedenfalls nur ausnahmsweise.
Die Frau aus der zweiten Geschichte war supercool und komplett nüchtern, obwohl es schon zu tagen begann. Daraus geht hervor, dass sie einen besseren Modus vivendi gefunden hat, jedenfalls einen mit weniger Alkohol und Drogen.
6. Ein Mann begründet
plus ein Mentalprogramm aus 20 Worten und ein Beispiel aus der Literatur.
Am späten Nachmittag eines Sommertages hole ich einen Mann in einem Hotel ab. Er will zur Langstrasse. Er ist nicht zum ersten Mal hier. Auf der Fahrt mäkelt er an seiner abwesenden Frau herum, sie kenne nichts und verstehe nichts. Darum freue er sich, wenn er auf Reisen sei, Frauen zu treffen, die alles kennten und als machten. Nein, in Nachtclubs gehe er nie, denn an kaltem Fleisch habe er kein Interesse. Darum der späte Nachmittag. Er ist ziemlich verstrickt und er weiss es nicht.
Mentalprogramm
Es gilt, in jeder Situation das Gute und Reizvolle mitzunehmen und so den Zirkel aus Erwartung und Enttäuschung zu unterlaufen.
Beispiel aus der Literatur
In Brigitte Kronauers „Berittener Bogenschütze“ nimmt ihr Protagonist Matthias Roth, ein Literaturprofessor, in einer Verzweiflung einen Pflasterstein nachhause, den er magisch aufzuladen versucht, um seiner Existenz ein wenig Glanz und Boden zu geben. Es misslingt. Der Weg ist weiter. Da steht auch unser Bordellbesucher. Der Wendepunkt übrigens heisst bei einigen Midlife Crisis.
7. Frisch angekommen
Beim Central steigen zwei junge Pärchen ein mit viel und grossem Gepäck. Der Mann, der neben mir sitzt, muss dringend eine neue SIM-Karte haben für sein Handy. Im Hauptbahnhof sind sie nicht fündig geworden.
Sie wollen an die Überlandstr. 79. Wir fahren noch einige Kioske an, aber weil es ein freier Tag war, waren einige geschlossen und die offenen führten auch keine SIM-Karten. Ich verwies auf den nächsten Tag, wo alle Läden wieder in Betrieb seien.
Dann also zur angegebenen Adresse. Es ist ein Bordell. Die beiden Frauen steigen aus, inklusive ihrem voluminösen Gepäck.
Die beiden Männer suchen ein günstiges Hotel. Wir fahren einige an, die sich alle als zu teuer erweisen. Im "Etap" an der Pfingstweidstrasse kostet es 110. — und sie steigen da ab. Sie meinten noch, sie könnten anderntags weiter recherchieren, ob sich noch etwas Günstigeres finde. Am besten wäre eine billige Wohnung.
Unterwegs haben sie erzählt, dass sie gleichentags per Zug von Frankfurt gekommen waren. Sie kommen aus Rumänien. Ich wünschte ihnen viel Glück!
8. Das Geld der jungen Männer
8.1. Von Bordell zu Bordell
In einem Bordell an der Zürcher Mühlegasse holte ich einen jungen Mann ab. Er erzählte mir, dass er am Abend zuvor in Niederdorf mit einer Prostituierten gegangen sei, aber es habe ihm nicht gefallen. Dann ging er gegen 2300 Uhr in das Bordell an der Mühlegasse, wo ich ihn so um 0600 Uhr abholte. Er fuhr zuerst nachhause in Volketswil, um sich dort Nachschub an Geld zu holen und von dort fuhr er direkt wieder in ein Bordell in Hegnau, einem Nachbardorf. Bevor er zuhause ausstieg, um Geld zu holen, sagt er noch, zuhause lägen noch viele Tausender. Die paar Franken für das Taxi fielen dabei nicht ins Gewicht. Er war übrigens ziemlich nüchtern, was nach so einer Nacht in einem Bordell nicht zwingend ist, wie eine vorstehende Geschichte erzählt (Nr. 40-4).
8.2. Alles für sie
An einem Samstagmorgen im Oktober steigt ein junges Pärchen ein. Bevor sie einsteigt, hustet und schnäuzt sich die Frau ausgiebig. Zuerst wollen sie ans Bellevue in die 24-Stunden-Apotheke. Er ist Schweizer, ich rede mit ihm. Er hat nicht herausgefunden, warum sie in die Apotheke will. Vermutlich, um Kondome zu kaufen, meint er. Als sie aus der Apotheke kommt, holen sie gegenüber Kaffee und Gipfeli. Dann fahren wir vom Bellevue nach Volketswil. Auf der Hälfte der Fahrt liegt er mit dem Kopf an ihrem Busen oder auf ihrem Schoss. Wieder kostet das Taxi an die 100 Franken. Peanuts für ihn an so einem Wochenende mit einer Prostituierten. Er zahlt mit einer 200-er Note, die er noch büschelweise mit sich trägt.
9. Oft läuft es schief
Wenn ein Freier und eine Dirne ihr Habitat verlassen, dann sind sie ein Paar. Sie tauschen Zärtlichkeiten aus, sagen sich Freundlichkeiten und sie pflegen die Einvernehmlichkeit wie andere Paare auch. Anderes sind diese Beziehungen insofern, als sie Fiktionen einschliesst und das macht sie labil.
Ich hole einen Mann und eine Frau in einem Bordell ab. Wir fahren zu seinem Wohnort, ziemlich zentral in der Stadt. Er lässt uns warten. Ich rede mit ihr. Sie sagt, sie würden danach wieder ins Bordell zurück gehen. Er kommt zurück und er will an den Flughafen. Dort holt er Geld. Als er zurückkommt, lädt er sie auf eine Zigarette ein und sie rauchen draussen.
Dann fahren wir in die Stadt zurück. Auf diesem Weg kommt es zu einem Konflikt darüber, wohin sie jetzt gehen, er will zu sich nachhause, sie ins Bordell. Er wiegelt ab, verzögert, aber dann stellt sie fest, sie bestimme jetzt, wohin sie gehen würden. Sie misstraut ihm ein wenig. Auf Nachfrage erklärt er sich einverstanden.
Wir fahren zum Bordell und dort steigt eine zweite Frau zu. Die andere ist überrascht und protestiert. Die beiden Frauen haben eine gemeinsame Sprache, rumänisch, ihre Muttersprache. Sie streiten. Auf halbem Weg zu ihm nachhause, lässt er mich rechts heranfahren. Er sagt, er halte es nicht mehr aus, er wirft einen Tausender ins Auto und geht. Die zweite Frau geht ihm nach, kommt aber erfolglos zurück. Wir fahren zu seiner Adresse und als er nicht mehr reagiert, geht es zurück zum Bordell.
Die labile Fiktion liess sich nicht mehr aushalten. Das Unbehauste bricht sich bahn, die prekäre Existenz zeigt ihre Verletzlichkeit. Er hat etwas versucht, es ist misslungen. Er ist enttäuscht, die beiden Frauen sind enttäuscht. Opfer wo man hinschaut!
Ich solchen Momenten, und so oder ähnlich ist das schon mehr vorgekommen, bin ich überglücklich, seit vielen Jahren in einer schönen Partnerschaft zu leben.
41. Ein Andenken in vier Kapiteln
Frühling: Das Paar
An einem schönen Frühlingstag steigt, aus einem Restaurant kommend, ein formidables Paar ein. Sie ist gross, schlank, dunkelhaarig und hochklassig angezogen, er in einem eleganten, hellen Zweireiher.
Im Fond sitzend diskutieren sie ein Thema: Sie argumentiert mit Hegel, Heidegger, Adorno und Chomsky, er mit Kant, Fichte, Schelling und Blumenberg. Beide flechten ungezwungen lateinische Zitate ein. Alles in einem lockeren friedlichen Umgangston.
Was draussen vorbeizieht, wie das Essen war, was sie vorhaben kam nicht zur Sprache. Er zahlte und draussen parlierten sie weiter, bis sie im Hauseingang verschwanden.
Sommeranfang: Der Mann
Vielleicht zwei Monate später hatte ich ihn allein im Auto. Ich spreche ihn auf seine Begleitung beim letzten Mal an.
Er habe viele Jahrzehnte gehofft, eine Frau wie sie zu treffen. Jetzt sei es grossartig und er freue sich täglich tief und dankbar, dass er sie getroffen und gewonnen habe.
Diesmal erzählt er, dass er in Gossau bei St.Gallen aufgewachsen sei. Er zitiert Schüttelreime aus seiner Jugend. Er betreibt eine Arztpraxis im vorderen Seefeld und wohnt ein paar Strassen weiter. Die Praxis laufe langsam aus, erzählt er.
Sommerende: Die Frau
Vielleicht rund drei Monate später fahre ich ihn zu einem Pflegeheim. Er besucht seine Frau. Sie ist an Demenz erkrankt. Wieder im Auto meint er, es sei nicht der richtige Ort für sie. Er ist traurig, aber entschlossen, alles für sie zu tun.
Er erscheint stark gealtert und übernächtigt.
Herbst: Das Ende
An einem goldigen Herbsttag hole ich ihn in einem kleinen Privatspital ab. Er will zum nahen Zoo. Er sieht wieder besser aus. Beim Zoo lädt er mich zu einem Kaffee ein. Solche Einladungen lehne ich meistens ab, in diesem Fall habe ich zugesagt. Auf der Terrasse beim Zoorestaurant übergibt er mir einen Koffer mit einer Unmenge von Cervelats drin. Im Zoo hätten sie keine Verwendung dafür. Sie seien von einem Fest übriggeblieben.
Er erzählt, dass seine Frau jetzt gut untergebracht sei. „Und für sie ist gesorgt“, stellt er befriedigt fest. Sein Vermögen erfüllt einen guten Zweck. Jetzt sei er krank. Er habe mit seinem Bruder telefoniert, auch Arzt, aber seit ewig in Amerika. Sie seien sich einig, dass es für ihn gesundheitlich auch heikel sei.
Ein paar Wochen später erreichte die Zentrale ein Schreiben in wunderschöner und leserlicher Handschrift, mit dem er seinen Koffer zurückforderte. Wenige Tage danach erreichte mich auf merkwürdigen Wegen die Nachricht, dass er gestorben sei.
42. Misstöne und was sie uns lehren.
Es kommt vor, dass eine Fahrt mit Misstönen beginnt: Einmal läute ich frühmorgens, obwohl das der Kunde bei der Bestellung verhindern wollte. Selbst wenn ich nicht daran schuld bin, weil der Hinweis bei der Auftragsvergabe fehlte, so entlädt sich der Ärger trotzdem beim Fahrer. Ein Andermal läuft bei einer Bestellung auf eine fixe Zeit der Taxameter legalerweise ab dieser Zeit, was die Zuspätkommenden manchmal aufregt.
Je nachdem entschuldige ich mich oder ich erkläre den Fall. Dennoch herrscht erst Mal dicke Luft, eine Spannung.
Ich musste lernen, nur kurz meinem eigenen Ärger nachzuhangen. Wenn ich mich davon befreit habe, versuche ich, ein Gespräch in Gang zu bringen und eine einvernehmliche und wohlwollende Atmosphäre zu schaffen.
Fast immer steigen die Leute darauf ein, dankbar für den Anstoss zu einer Änderung. Am Ende der Fahrt entschuldige ich mich nochmal und ich verspreche wenn nötig bei der Zentale zu intervenieren, um allfällige Fehler auszumerzen. Nicht selten verabschieden sich in solchen misstonbegleiteten Fahrten vor allem Männer mit Handschlag.
Ich interpretiere das als Anerkennung, dass wir es zusammen in der meist kurzen Zeit einer Taxifahrt geschafft haben, einen Ausweg aus dem Konflikt zu finden und befriedet auseinandergehen können.
Ein Mann, den ich spät an den Flughafen fuhr, drohte anfänglich damit, die Taxifirma zu wechseln. Es lief dann wie beschrieben, und kürzlich holte ich bei seiner Firma wieder Leute ab. Die Drohung war also am Flughafen wirklich vom Tisch gewesen.
43. Steinalt und superfit
Ein altes, aber aufrechtes, ungebeugtes Frauchen winkt mit dem Stock. Behende steigt sie vorne in mein hohes Auto ein. Sie lobt mich überschwänglich für meine Freundlichkeit. An ihrem Ziel angekommen holt sie das Geld aus ihrem Portemonnaie im Tempo einer 30-jährigen und ohne Brille. Die drei Treppen zur chemischen Reinigung steigt sie flüssig hoch. Nachher will sie noch in einen nahen, belebten und mit Rolltreppen vollgestopften Grossverteiler einkaufen gehen. Beim Aussteigen hat sie mir verraten, dass sie in zwei Wochen 90 wird.
Wenn man die weit Jüngeren in Pflegeheimen sieht, dann ist diese gewaltige Diskrepanz nur schwer zu ertragen.
44. Wie man die Alten schröpft
Wer in ein stadtzürcherisches Alters-, Plege oder Blindenheim eintritt, der lasse alle Hoffnung fahren.
Eine 70-jährige ist aus einem ganz seltenen Grund erblindet. Sie hat als Kleiderverkäuferin gearbeitet. Sie ist ein Ästhetin, sie hat ein Auge für den Stil. Auch als Blinde will sie gepflegt sein. Wer indes ein paar Franken auf der hohen Kante hat, dem werden sie in diesen Heimen radikal abgenommen. Am Schluss haben sie ihr verboten, mit dem Taxi zu ihrer langjährigen Coiffeuse in dem Quartier zu fahren, wo sie gewohnt hatte. Dort traf sie beim Coiffeurbesuch regelmässig eine Freundin. Diese kann Tram und Bus auch nicht mehr mehr benutzen. Sie können sich nie mehr treffen, sie können nur noch telefonieren. So weit geht diese Diktatur.
In vielen Ländern ist die Pflegefinanzierung ein finanzielles Problem des Staates, der Allgemeinheit, des Steuerzahlers. Anders in der Schweiz. Hier nimmt man den Betroffenen, den Kranken, den Alten alle Geldmittel ab. Darum gibt es hier keine öffentliche Diskussion. Eine Frau, die ich kürzlich im Auto hatte, sagte darum, man sollte sich als alte Person rechtzeitig arm machen, vererben, weitergeben, verkaufen. Denn wer arm in die Institutionen kommt, der erhält dort die gleiche Behandlung wie der, der den Institutionen viel bezahlt hat.
Diese Frau hat erzählt, sie hätten ihre Mutter aus einem Plegeheim herausgeholt, weil sie da mies behandelt worden sei. Sie stellten zwei Krankenschwestern ein und pflegten die Mutter zuhause bis zu ihrem Tod.
45. Viel Nichtwissen
Die Frau, aus der Geschichte unmittelbar oben, die die ihre Mutter aus dem Plegeheim geholt hat, musste das Autofahren aufgeben, weil es ihr dabei schwindlig wurde. Ein Taxichauffeur hat ihr erzählt, dass ein Kollege aus dem gleichen Grund die berufliche Tätigkeit einstellen musste. Dieser liess sich untersuchen, ohne Resultat, ohne Diagnose und ohne Therapie. Denn, sagt sie, neben dem vielen Wissen gebe es viel mehr Nichtwissen.
Das stimmt offensichtlich, aber die Kehrseite davon ist, dass die geistige Welt voller Fragen ist, die uns ein Lebenlang beschäftigen können und unterhalten.
46. Eine kleine Wirtschaftsgeschichte
Quellen dieser Geschichte sind ein paar Handelsregisterauszüge, zwei Augenscheine und einiges an Fiktion. Die Namen sind erfunden.
1. Die Anfänge
Der 1943 geborene Xaver Zemp machte eine Lehre als Maler. Nach der Rekrutenschule und inzwischen 20-Jährig bekam er einen Job in der Nachbargemeinde. Bald dachte er darüber nach, wie er selbständig werden könnte. 1968 trug er seine Firma im Handelsregister ein. Bald danach stiess ein Deutscher dazu, Ingo Lange. Seine souveräne Lockerheit traf auf die Hartnäckigkeit, das Geschick und das Aquisitionstalent des Schweizers. Jetzt ging es schnell bergauf. Zemp aquirerte und half überall, Lange schmiss den Betrieb und Zemps Frau sorgt im Hintergrund für Ordnung, in der Buchhaltung
2. Die Erfolgsjahre
Sie hatten Erfolg, weil sie sich nie zu schade waren, auch mal 24 Stunden durch zu arbeiten, wenn es sein musste. 1973 wurde der Deutsche an der Firma beteiligt, nochmal 5 Jahre später kam Zemps Frau dazu.
Im gleichen Jahr bezogen sie ein neues Betriebsgebäude, das sie nach dem Beispiel alter Fabrikbauten mit einem Zackendach bestückten. Vorne gab es Platz für den wachsenden Fuhrpark, hinten lagerten das Material und die Werkzeuge. Nur ein Jahr später kam ein Mehrfamilienhaus dazu, in das Zemps Familie und Lange einzogen und ein paar Mitarbeiter, die dazu gestossen waren. Im Zwischentrakt waren zwei Büros untergebracht. Von da ab prangte eine neue, grosse, rote Leuchtschrift auf dem Dach des Betriebsgebäudes, das nahe an einen neuen Autobahnzubringer zu liegen kam. "Xaver Zemp AG" stand da gross und etwas kleiner "Gipser & Maler" darunter.
Im Jahre 2004, Zemp war also gerade 60 geworden, beteiligten sie ihren besten Mitarbeiter, den aus Italien stammenden Romano Guardia. Er ist Jahrgang 72, bei der Beteiligung also 32 Jahre alt. Ihm hatten sie den Internetauftritt zu verdanken, ohne den es nicht mehr ging.
3. Der Niedergang
Im Jahre 2009 traten Zemp, Zemps Frau und Lange aus dem Verwaltungsrat aus. Romano Guardia übernahm, mit Einzelunterschrift. Zemp war kränklich geworden und Lange litt unter einer Arthrose. Es wurde ihnen unmöglich, ihren Aufgaben gerecht zu werden, die auch körperliche Kraft erfordern. Sie wollten nämlich immer Vorbild sein für ihre Mitarbeiter und sie waren sich bis zuletzt für nichts zu schade.
Guardia kaufte die bisherigen Eigentümer mit einem Bankkredit aus. Bald danach zügelte er das Unternehmen in eine Nachbargemeinde. Bald danach änderte sich auch der Firmenzweck: Er bestand jetzt darin, Maler- und Gipserbedarf zu verkaufen und eine Software für Maler und Gipser anzubieten.
Der kürzliche Augenschein ergab, dass sich im ehemaligen Betriebsgebäude eine Garage einrichtet hat. Am neuen Ort des Betriebes ist alles hermetisch abgeschlossen. Die beiden Zugänge zu einem offenen Hof sind mit Gittern zugestellt. Nirgends ist ein Name angeschrieben, keine Spur der Xaver Zemp AG, die es im Handelsregister noch immer gibt. Auf dem Hof steht ein einziger Farbkübel, hinter einer Plastikplane ist undefinierbares Material aufgeschichtet. Vor dem Haus steht ein alter Lieferkastenwagen, auf dem noch schemenhaft die Firma des Vorbesitzers zu sehen ist. Von Zemps Fuhrpark gibt es nichts mehr, auch der noch neue, kleine Pritschenlastwagen ist weg.
Eine Telefonnummer findet sich nicht mehr. Es bleibt abzuwarten, aber es ist absehbar, dass es im Handelsregister bald heissen wird: Xaver Zemp AG in Liquidation. Denn eine Firma, die sich vor ihren Kunden versteckt, kann nicht lange überleben.
Zemp und Lange wohnen noch immer in ihrem Mehrfamilienhaus. Sie sind enttäuscht über diese Entwicklung, aber tun können sie nichts mehr. Vielleicht raffen sie sich zum Versuch auf, wenigstens die Firma, den Firmennamen, zurückzuholen, so dass Guardia einen neuen Firmennamen annehmen müsste. Aber es dürfte einiges kosten. Sie überlegen, ob es das wert ist. Guardia meldet sich nicht mehr bei ihnen.
4. Rentnerdasein
Zemp, seine Frau und Lange jassen viel, oft kommt ein früherer Mitarbeiter dazu oder eines von Zemps Kindern. Abends haben Zemps noch immer oft einen Tisch voller Leute. Tagsüber bestimmen neben dem Alltagsbedarf zunehmend Doktorbesuche den Terminkalender. Noch immer reisen Zemps jedes Jahr nach Abano zur Kur.
Zemps zwei Kinder übrigens sind auch schon wieder selbständig, aber in ganz anderen Feldern: Der Sohn Andreas betreibt ein Tonstudio in der Stadt, zempsounds.ch genannt und die Tochter hat auf dieses Jahr einen bestehenden Coiffeursalon übernommen, am Ort der Erfolge ihres Vaters und mit seiner finanziellen Unterstützung. Im Handelsregister heisst ihr Salon Karin Zemp GmbH. Seine Kinder wenigstens erfreuen Zemps Herz.
Gerade nächsten Sonntag kommen beide mit ihren Gschpänli zu Besuch und dann wird wieder nach Kräften politisiert. Für die Freundin von Andreas war das eine ganz neue Erfahrung, denn sie ein Immigrantenkind.
Lange übrigens ist längst eingebürgert, aus Überzeugung und in jeder Hinsicht und in vielem mehr Schweizer als fast alle.
Ein paar andere Forschungsergebnisse
1. Verschwinden schwierig
Aus dem Handelsregister zu verschwinden ist eine langwierige Sache. Das Telefon fehlt viel schneller, die Adresse ist bald ungültig und die Emailadresse funktioniert auch schnell nicht mehr.
Aus dem Handelsregister zu verschwinden ist auch darum schwierig, weil unzählige, internetbasierte Wirtschaftsauskünfte die untergegangen Firmen bewahren.
2. Verschwinden feststellen
Wenn eine Firma telefon- und adress-seitig verschwindet, dann erlaubt der Handelsregisterauszug oft, den Grund zu erahnen.
Wenn der erste Eintrag 40 oder 50 Jahre zurückliegt, dann ist ein geschäftsmässiger Rückzug auf Grund des Lebensalters anzunehmen. Als Beispiel ist eine Werbeagentur aufgefallen, die eng mit dem Namen des Betreibers verknüpft war.
3. Zweckänderungen
Zweckänderungen sparen eine Neugründung. Oft indessen ist im Hintergrund ein erstes Scheitern, und das Glück ist der Firma mit dem neuen Zweck oft auch nicht hold.
Ein Beispiel ist mir aufgefallen: Zuerst der Betrieb eines Privatspitals, dann ein Medienverlag. Der Medienverlag hat den Sitz später quer durch die Schweiz verlegt und ist jetzt bei einem Anwalt domiziliert. Es klingt nicht nach einer Erfolgsgeschichte.
4. Duo und Single. Beispiel Zemp
Ein funktionierendes Paar ist oft auch an der Quelle finanziellen Erfolgs. Wenn das Paar scheitert, scheitert oft auch die Firma.
Zemps Erfolg kam mit Lange und mit Zemps Frau, die ein starkes Trio gebildet haben. Guardia allein konnte das nicht leisten. Das hätte Zemp wissen können und er hätte diesbezügliche Massnahmen einleiten können. Aber das Alltagsgeschiebe hat die strategische Ebene verkümmert gelassen.
Als Beispiel ist eine Finanzboutique aufgefallen, wo er Verbindungen zu einer Grossbank hatte. Nach seinem Ausscheiden ging es nicht mehr lange. Der Versuch von ihr, die Firma an einem anderen Ort weiter zu betreiben, scheiterte bald.
5. Internetbasierte Irrtümer
Weil die internetbasierten Wirtschaftauskünfte, aber auch andere Auskunftsseiten, Vergangenes und Aktuelles gleichermassen aufbewahren, ist es oft schwierig herauszufinden, welches die aktuelle Richtigkeit ist, z.B. bezüglich der Adresse.
Noch schwieriger ist es, bei einem abgewickelten Unternehmen festzustellen, wann welche Gegebenheit herrschte, z.B. bezüglich des Ortes. Die Antwort auf die Frage, von wann bis wann dieses galt und von wann bis wann jenes, ist oft gut verborgen.
47. Ein CEO
An einer noblen Adresse, bei einem repräsentativen Haus hole ich einen Mann im besten Alter ab. Er heisst A. Er fährt zum Flughafen und er telefoniert zu kleinen, persönlichen, organisatorischen Themen. Er muss hablich sein – siehe Wohnort, aber nichts weist darauf hin, dass er eine bedeutsame Funktion bekleiden würde.
Drei Tage später kam der neue „Spiegel“. Darin fand ich diesen A. wieder, zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Dimitry Medwedjew stehend.
A., so erwies sich, war der Chef, der CEO, einer grossen, alten Industriefirma. Das Bild im „Spiegel“ stammte von der Eröffnung einer neuen Anlage dieser Firma in Russland.
Die Banker fahren ab der dritten Hierachiestufe nur noch in schwarzen, verdunkelten Limousinen herum. Völlig ausgeschlossen ist, dass sich der Chef einer grossen Bank in ein popliges Taxi setzen würde. Auch daran sieht man eine Abgehobenheit, wie sie der Realwirtschaft fremd ist. Da lobe ich mir A. und die Fabriken.