1. Sonjas Geburtstag

Über ein halbes Jahr nervt die mongoloide Sonja ihre Umgebung mit der Behauptung, sie dürfe jetzt noch nicht nachhause gehen, weil dort noch eine Sitzung stattfinde, bei der sie nicht stören dürfe. Gefragt, was denn an dieser Sitzung besprochen werde, rollt sie die Augen über die dumme Frage und sagt: “Über meinen Geburtstag natürlich.!”

2. Myriams Schockolade

Myriam ist leicht behindert, spricht indessen gestochen scharf. “Was habt ihr heute gemacht?” Sie: “Schokolade verpackt, so in kleine Schachteln”. “Ja und, hast du auch genascht von dieser Schokolade”? Entsetzt schaut sie mich an: ”Aber nein, die ist doch nicht koscher.”

3. Bargeld der alten Frau

Es ist Freitagabend, Autoschlangen überall in der Stadt. Sie ist uralt, fast haarlos, leicht behindert, geht gebückt an einem Rolator, wie das Gehwägelchen bei einigen heisst, und sie will zu dieser Stosszeit zurück in ihr Altersheim.

Zuerst ist sie im Grossverteiler nicht auffindbar und dann will sie noch in der Drogerie eine Zahnpaste kaufen gehen – als ob es das im Grossverteiler nicht gäbe. Sie nervt mich. Am Ende der Geduld stelle ich die Taxuhr ein.

Als sie endlich nach der Drogerie im Auto sitzt muss ich sie nach der Zahlungsweise fragen, weil wir auf die Gutscheine einer Behindertenstifung keine Wartezeit abrechnen dürfen und weil ich urteile, dass sie wahrscheinlich mit so einem Gutschein zahlen wird. Leicht entsetzt und überraschend vital sagte sie mit aufgesperrten Augen: ”Bar!”

Weil die Bank – Stossverkehr – schon geschlossen hatte, fand sich am Ende nicht genug Bargeld in ihrem zerknitterten Portemonnaie. Mir waren die paar fehlenden Rappen egal, aber sie verschwand fast im Boden, so schämte sie sich.

4. Brigittes Redestrom

Brigitte ist mental behindert. Auf der langen Taxifahrt von der Maltherapie in ihr Heim redet sie unablässig und in einem gleichförmigen Singsang. Darin schwimmt vieles mit: Fragen, die man an sie gerichtet hat, Urteile über ihre Zeichnungen in direkter Rede – "Brigitte, das hast du gut gemacht!" – und viele Redensarten, darunter: “Wenn du sagst, dann wird es schon so sein!” und kurz vor dem Ende der Fahrt: ”Jetzt haben wir’s bald!"

5. Ehegeschichte

Als wir bei einer gesprächsreichen Stadtquerung bei der Kirche Fluntern vorbeikommen erzählt die vielleicht Fünfzigjährige unvermittelt und abrupt “Ja, hier haben wir jung geheiratet. Es ging nicht gut. Er hat getrunken.” Wie lange ging das? “Ich weiss nicht mehr, zwei Jahre vielleicht.”

6. Es lehrt einem

Ich leide unter ersten Altersbechwerden und staune deshalb über die Nachlässigkeit und Sorglosigkeit der Jüngeren. Die ältere Frau auf dem Weg ins Spital kontert: "Ja, aber das hat doch auch etwas schönes, diese Sorglosigkeit”.

Geredet wird mit denen, die reden wollen. Nach einem guten Gespräch fehlt es oft nicht an Feedback: Das war jetzt eine kurze Fahrt, das war jetzt aber interessant.

Mit Frauen findet sich viel leichter ein Gespräch, aber es gibt auch kommunikative Männer, vor allem die älteren Männer sind es. 

7. Der gute Weg

Natürlich ist der gute Weg oft Thema. Ein junger Mann liess sich auf dieses Gespräch ein, er kannte die Stadt gut. Daraus wurde eine wilde Spekulation, die alle Varianten abcheckte. Am Ende aber resultierte ein ziemlich konventioneller Weg. Dennoch fand er begeistert, wir hätten einen superguten Weg gefunden.

8. Der schnelle Absturz

Die junge Frau stieg immer frühmorgens ein, direkt vom Kreisgebäude nebenan. Da holte sie einen Gutschein ab. Dann fahrt sie zur Stadtkasse – wirklich auch ein Schalter im Parterre des Stadthauses. Dort bekommt sie für diesen Gutschein Bargeld, mit dem sie auch das Taxi zahlt.

Bevor sie im Stadhaus verschwindet, hinterlässt sie sie routienemässig ihre Uhr. Sie rechnet mit dem Misstrauen. Sie ist verwahrlost. Sie habe als Buchhalterin gearbeitet, erzählt sie, eine Wohnung gehabt, einen Töff. Dann habe sie vor einem Jahr den Job verloren. “Jaja, es geht schnell!” kommentiert sie. Ich glaube nicht, dass sie noch lebt.

9. Das Alter und die Katzen

In einem entlegenen Aussenquartier hole ich eine alte Frau. Wie viele alte Frauen ist sie gepflegt angezogen, saubere Halbschühchen an den Füssen. Unterwegs erzählt sie, wie ihr eine Katze zugelaufen war. Diese Katze hat sie jahrelang begleitet. Jetzt ist sie gestorben. Sie wollte wieder eine Katze und ging ins Tierheim. Dort beschied man ihr, so alten Leuten gebe man keine Katze mehr. Darüber verfiel sie in wortlose Traurigkeit. 

10. Frauenmehrheit

Es fahren viel mehr Frauen Taxi als Männer. Sie werden alt und sind dann oft auf ein Taxi angewiesen. Oft ist es eine wortreich erzählte Niederlage, wenn sie den öffentlichen Verkehr nicht mehr benutzen können.

Das auslösende Ereignis ist oft ein kleiner Unfall beim Ein- und noch öfter beim Aussteigen.

Eine hat erzählt, dass sie sich, schon aufgestanden für ihre Ausstiegsdestination, bei einem etwas stärken Stop des Buses nicht mehr halten konnte, umfiel und sich verletzte.

Die konkrete Geschichte rollt sich natürlich aus auf dem Weg zur Therapie.

11. Der verständnislose Gatte oder Frauen dieser Generation oder Licht auf die Ärzte

Sie keucht und schnaubt und sitzt sie endlich im Taxi, erholt sie sich lange nicht. Schon als junges Mädchen litt sie darunter. Oft fiel sie wie ohnmächtig hin. Nein, ihr verstorbener Gatte hätte dann beschieden, sie solle sich zusammenreissen. Aber bei den Doktoren half ihr auch keiner. Ein Leben lang hatte sie keine richtige Diagnose und keine Therapie. Aber sie gibt auch zu, nie insistiert zu haben. Als Frau hätte sie das doch nicht gekonnt!

Jetzt hat sie eine technische Atemhilfe und einen Platz im Pflegeheim. Ein junger Arzt hat sie endlich ernst genommen und ihr geholfen, jetzt, wo sie eine alte Witwe ist.

12. Der Kampf um Selbständigkeit

In Ihrer Wohnung riecht es unangenehm. Sie ist schwer behindert, wahrscheinlich durch einen Unfall oder einen Hirnschlag. Ihre Artikulation ist so fahrig, dass ich kein Wort verstehe. Sie kann sich nicht mehr zureichend um ihre Wohnung kümmern, hält aber dennoch weiterhin eine Katze und sie hat Lippenstift aufgetragen, der leicht verschmiert ist. Als ich sie erstmals abholte, fiel sie rückwärts ins WC-Räumchen bei der Eingangstür.

Sie rappelte sich hoch und nach einer Viertelstunde sass sie im Taxi.

13. Eine schöne Frau

Noch heute ist sichtbar, dass sie als Frau eine Wucht war: Ein schönes Gesicht, gross, schlank, sportlich, gut geformt und wahrscheinlich erfolgreich im Beruf. Sie erzählt mit Bitterkeit in der Stimme, dass der Bluthochdruck behandelt wurde, als sie ein Hirnschlag traf, der sie halbseitig gelähmt zurückliess.

Körperlich behinderte und altersgefällte Leute hadern oft überhaupt nicht mit ihrem Schicksal. Es sind oft fröhliche und zufriedene Persönlichkeiten. Mein Bild für diese Kategorie ist der alte und gemütliche Mann im Rollstuhl, der mit der jungen Praktikantin scherzte, die ihm beim Pflegeheim einzusteigen half, und zwar zur Fahrt in die Podolgie.

Dann und wann aber trifft man Verbitterte. Der junge Mann z.B. der in den Balgrist zur Therapie fährt, ist im Rollstuhl, behandelt alle aggressiv, redet düster und beklagt sein Schicksal.

14. Schwierige Feindschaft

Sie wohnt in einem schlechtbeleumdeten Quartier. Sie will quer durch die Stadt zu einer Kantonalbank, die sie kennt, auch wenn es bei diesem Filialnetz weit näher möglich wäre. Das Gespräch läuft gut, aber plötzlich faucht sie mich ganz laut und hasserfüllt an, sie wolle in ein Kaffee in ihrem Quartier. Sie war noch nicht in der Bank, aber ihr Handy hatte geläutet. Über die Routenwahl faucht sie noch ein paarmal, zeigt sich aber zufrieden, als sie dennoch aufgeht. Dazwischen erzählt sie mir ihr interessantes, transnationales Berufsleben. Jetzt läuft sie gebückt an ihrem Gehwägelchen und ist phasenweise unleidig. So offene Feindlichkeit beschert mir erhebliche Schwierigkeiten. Als sie mich aus ihrer roten und rissigen Lederhandtasche bezahlt hatte und wieder an ihrem Wägelchen hing, sagt sie indessen zu meiner Überaschung: “Ich hoffe, ich habe sie bald wieder als Chauffeur.”

Es war das letzte Mal, weil ich danach selbständig wurde und dabei die Kunden des alten Arbeitgebers aus den Augen verlor.

15. Neue Liebe

Manchmal reden die Fahrgäste nur untereinander, und nicht mit mir. Aus diesen Gesprächen schält sich zuweilen auch eine Geschichte heraus. So z.B. die folgende:

Es ist so um 0600 Uhr an einem Morgen im Herbst. Es ist noch dunkel. Ich hole eine Frau und einen Mann in einem Bezirk mit vielen Unternehmen ab.

Die zwei arbeiten schon einige Jahre im gleichen, nicht sehr grossen Betrieb. Sie kannten sich von den Namen her. Eine Kantine, wo man sich näher hätte kennenlernen können, gibt es nicht in diesem Betrieb.

Gestern Abend fand ein „gemütlicher“ Betriebsanlass statt. Als dieser zu Ende ging, zog eine Gruppe weiter, darunter diese zwei. Gegen Mitternacht oder noch später reden sie zum ersten Mal miteinander, sie verlieben sich und küssen sich zum ersten Mal. So bleiben sie redend sitzen, bis der Laden schliesst. Im Taxi geht von ihrer Seite eine fulminante Beschwörung über die Bühne. „Ich tue alles für eine Liebe, ich gebe immer 200%“  sagt sie und probiert damit, die neue Liebe zu festigen, ihn zu überzeugen. Es redet nur sie.

Als wir bei ihr in einem Aussenquartier ankommen, steigen sie aus. Sie rennen quer über einen hügeligen Rasen zur Haustür auf der anderen Seite.

Wahrscheinlich gingen die Läden dort erst am späten Nachmittag hoch. Ich wünschte ihnen mental viel Glück!

16. Let me in!

Ein älterer, aber noch aktiver, grosser, grauhaariger und gut angezogener Mann steigt ein. Es ist ein Amerikaner.

Dann telefoniert er während der ganzen Fahrt, mit der Sekretärin zuhause, mit seiner Frau, mit einem Freund. In diesen Gesprächen zeigt sich, dass er ein grossherziger, loyaler, liebes- und freundschaftsfähiger, witziger, umsichtiger, intelligenter und selbstsicherer, kämpferischer und  erfolgreicher Mann ist, ein reifer und lebenserfahrener, ein grosser Mensch!

Als er bei einer Privatbank an der Bahnhofstrasse ausgestiegen war, schrie ich innerlich „Let me in!  Ich will auch zu ihrem Zirkel gehören!

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Das harte, schnelle, gehetzte Geschäftsleben fordert viele Opfer, aber immer wieder kommt es vor, dass den Leuten der Humor deshalb nicht abhanden kommt, dass sie in einer wichtigen  Ecke des Menschseins intakt bleiben. Dieser Typ legte dafür ein beredtes, eindrückliches Zeugnis ab.

17. Poesie

Ein alter Mann fuhr an einem frühen Abend im Dezember in den Ableger eines Altersheims im entlegendsten Quartier der Stadt, in Leimbach. Der Eingang wird über eine Rampe erreicht, die um eine Hausecke geführt wird. Es war bedeckt, trocken und schon dunkel.

Ich half dem Mann, seine Waren in sein Zimmer zu tragen. Das dauerte ein bisschen.

Als ich wieder herauskam, schneite es und überall lag schon feiner, weisser Schnee.

Ich genoss den poetischen Augenblick, zirkelte dann die jetzt gefährliche Rampe hinunter und fuhr guter Stimmung mit Klassik im CD-Player nachhause.

18. Anfang einer Businessliebe

Alle drei, zwei junge Frauen und ein junger Mann, arbeiten im Personaldienst einer grossen, internationalen Firma. Sie kommen von einem Meeting in Zürich. Alle haben eine andere Nationalität und einen anderen, nationalen Arbeitsplatz.

Der junge Mann erkundigt sich bei einer der  Frauen, wie es einer Kollegin in ihrer Niederlassung gehe, der jüngeren von zwei Gleichnamigen. Die angesprochene Frau kennt diese Kollegin gut. Beide ergehen sich in einem Loblied über diese Kollegin. Wie gut es sei, mit ihr Zusammenzuarbeiten, wie kooperativ sie sei, wie gut sie den Ton treffe und wie vorbereitet und sachkundig sie sei. Ganz anders als die Ältere desselben Namens, die nie mit Quatschen aufhöre könne.

Der junge Mann bittet die Angesprochene, der Kollegin einen Gruss auszurichten. Oh, sagt die Angesprochene, sie hätte ihm vor Langem auch einen Gruss von dieser Kollegin ausrichten sollen. Sie habe es vergessen und bitte um Entschuldigung.

Diese Entschuldigung hat er nicht gehört. Er war stark enthusiasmiert und er zeigte das ganz offen und herzig mit Ahs und Ohs.

Irgendwann  treffen sie sich wieder, die Kollegin und er. Die Annahme, dass sie mit einer Einladung rechnen kann, ist nicht weit hergeholt. Weil er ein höherrangiger HR-Mensch ist, wird er sie bald danach in seine Nähe befördern. 

19. Mentaliätsunterschiede

Es ist ca. halb Sechs an einem Dezemberabend, also schon dunkel. Bei der Galerie Koller an der Hardturmstrasse hole ich einen jungen Mann ab. Zu zweit hieven wir ein kleines, textilverkleidetes und stickereiübersäätes Vollsteintischchen in den Kofferraum. Er wollte zum Bahnhof gefahren werden.

Der Mann kommt, wie er erzählt, aus Wien. Er interessiert sich für Antiquitäten. Da er nicht viel Geld habe, seien seine Chancen klein, an etwas Gutes heranzukommen. Hier aber habe er bei einer Auktion mitgeboten und zu seiner Überraschung den Zuschlag erhalten. Er stürzte sich in den Nachtzug, um dieses Steintischchen in Zürich abzuholen und dann in seiner Wohnung aufzustellen.

Bald indessen kam er auf sein drängendstes Problem zu sprechen: Wie sollte er das schwere Ding in den Zug heben? Ich riet ihm, einen jungen Mann anzusprechen und um Hilfe zu bitten. Was!? rief er aus, das würde in Wien nie funktionieren! Einen Schmäh würde er zu hören bekommen! Auf keinen Fall wäre jemand bereit, ihm in dieser Lage zu helfen. Ich war ziemlich sicher, dass das hier kein Problem sein würde. Er schien zu zweifeln. Ich gab ihm meine Nummer mit der Bitte, mich anzurufen und zu berichten, wie es gelaufen war.

Zusammen luden wir das ersteigerte Ding auf einen Gepäckrolli und er verschwand im Bahnhof.

Später rief er an: Er habe sofort einen gefunden, der geholfen habe. Als sie selbst zu zweit Mühe hatten, das schwere Ding in den hohen Zug zu laden, sei ein Dritter spontan dazukommen, um zu helfen.

Als Bestätigung hat kürzlich hat eine gehbehinderte Frau erzählt, wie sie auf auch für sie erstaunlich leichte Weise Hilfe finde, um ihren Rollator in den Bus zu laden.

20. Nur der Anfang einer Geschichte

In einer Arztpraxis hole ich eine vielleicht 60-jährige Frau ab. Sofort sind wir in einem Gespräch. An einem Punkt in diesen Gespräch sagt sie, dass sie seit vierzig Jahren in derselben Wohnung wohne. Später ergänzt sie, in dem Haus, wo sie wohne und wo wir hinfahren, gebe es 40 oder 60, ich erinnere mich nicht mehr genau,  1 1/2-Zimmer-Wohnungen.

Zusammengefasst: Mit Zwanzig ist sie in eine 1 1/2-Zimmer-Wohnung eingezogen, in der sie nun 40 Jahre lebt. Welche Geschichte steckt dahinter? Wir haben nur einen Anfang.

21. Keine Geschichte

Es kommt vor, dass man eine Zeitlang immer mal wieder die gleichen Kunden fährt. Plötzlich reisst die Serie ab. Was ist passiert? Es gibt statt einer Antwort nur eine Leerstelle und damit keine Geschichte. Sind sie gestorben? Sind sie weggezogen? Sind sie wieder gesund? Oder sind sie nur zur Konkurrenz abgewandert, weil sich einer von uns daneben benommen hat?

22. Ein Macho erzählt

Ein prächtiges Mannsbild kommt aus einem Bordell in Wollishofen. Hier, was er im Auto erzählt, hat, möglichst getreu, wie ich es erinnere.

„Oh, das war eine wirklich schöne 18-Jährige, mit weicher, makelloser Haut! Warum immer mit der Gleichen schlafen? Mir wäre das zu blöd, zu langweilig. Fast wäre es mir zugestossen, fast hätte ich einmal geheiratet, aber ich bin rechtzeitig ausgestiegen. Nein-Nein, Abwechslung ist viel besser. Meine damalige Braut hat mich kürzlich angerufen, um ihre Hochzeit mitzuteilen, mit einem Tunesier. Ich habe ihr Glück gewünscht und gedacht: Lieber er als ich! Für das Geld, das eine Ehefrau kostet, kann ich viele Frauen oft dick ausführen und einladen. Wer sich so sexy anzieht - er zeigt auf eine junge, grosse, schöne Frau auf dem Trottoir - , die sucht sicher einen Versorger. Nicht mit mir! Freundinnen sind aber etwas Gutes: Sie können sich mal an meiner Schulter ausweinen, ich an ihrer. Aber deshalb muss man nicht heiraten.“

Er will an die Bahnhofstrasse, für einen Apéro. Ich lade ihn beim Paradeplatz aus.

23. Prekäres Gleichgewicht

„Ich konnte es nie satt werden zu bewundern, wie er eine so tiefgründige Traurigkeit mit einem so tatkräftigen Mut verband.“ Aus „Fron und Grösse des Soldaten“ von  Alfred de  Vigny.

Vier Gäste sitzen in meinem kleinen Auto. Die Beengung verschwindet in dieser Situation fast immer hinter den Gesprächen. Es geht zum Flughafen.

Diese Vier kamen aus einem Meeting. Zuerst muss also besprochen werden, was da  vorfiel, es müssen die besprochenen Projekte diskutiert werden und es werden die Akteure durchgehechelt. Dann aber stellt die einzige Frau dem Senior die Frage, was Reisen für ihn bedeute. Hier seine Antwort:

„Ich bin immer gereist. Als ich dann selbständig war, bin ich nicht an Projekte herangekommen, die diese  internationale Dimension hatten. Darum habe ich mich wieder anstellen lassen. Es ist nicht gut, wenn ich fünf Tage zuhause übernachte, obwohl es eine schöne Wohnung ist. Die Woche wird dann sehr lang, das Reisen verkürzt die Zeit.“

24. Homo homini lupus*

Vor allem in amerikanischen Firmen gibt es das Partnerschaftsystem. In einer normalen Hierarchie wird einer befördert, nach dem Peter-Prinzip bis zu einem Job, den er nicht mehr gut erfüllen kann. Das Partnerschaftsystem führt demgegenüber eine scharfe Grenze in die Hierarchie ein, mit blauem Himmel oben und düsterer Hölle unten. An dieser Grenze nehmen diese Firmen viele Turbulenzen in Kauf. Das ist so eine Geschichte.

Mein Gast sitzt am Freitagabend auf der Fahrt zum Flughafen hinten und telefoniert mit etwa drei Leuten zuhause, wo er hinfliegt. Er ist transparent in dem Sinne, dass er allen sagt, mit wem er auch noch redet. Daraus ergibt sich folgendes.

Einer, im Anschluss an Joseph Heller können wir ihn Slocum nennen, hat sich angemeldet, um als Partner aufgenommen zu werden. Das löst eine Informationssammlerphase der bestimmenden Leute aus, die vor allem aus Gesprächen bestehen. Er kommt von diesen Gesprächen. Bei den meisten zeigt der Daumen danach nach unten. Aus andern ähnlichen Abläufen weiss ich, dass das Codewort „fehlende Stärke“ heisst. So auch in diesem Fall.

Mein Gast hat mit seinen Telefonpartnern das Vorgehen abgesprochen. Daraus geht hervor, dass er selber Slocum am Samstag telefoniert. Er sagt ihm, dass sie ihm einen Auslandjob anbieten, aber ihn dort auch nicht als Partner empfehlen werden. Wenn er einen anderen Job suchen will, ist das willkommen. Die nächsten drei Tage dürfe er nicht im Büro erscheinen – um Unruhe dort zu vermeiden, wie er in seinen Telefongesprächen argumentiert. Ausserdem warten noch andere auf ein Nein, nur wissen sie es noch nicht.

Ausserdem wird er von allen Verteilern gestrichen und sein Email wird ausgesetzt.

Der Telefonierer ist vielleicht 45, im Gesicht ist er 55, um den Mund ist er 65. Haben ihn diese Gespräche zermürbt, die er vielleicht jeden Monat führen muss?

Wir stellen noch fest, dass in normalen Hierarchien im Prinzip nie Nein gesagt werden muss. Geredet wird nur, wenn sich ein Ja aufdrängt. Am Wölfischen ändert oft auch das nicht viel, wie z.B. der Fall Zürcher Kantonalbank** vor einigen Jahren gezeigt hat.

*  Der Mensch ist des Menschen Wolf. Die Hölle, das sind die anderen, wie J.P. Sartre sagte.

** Ein Mann erschiesst seinen Vorgesetzten, der den Täter in die Bank geholt hatte.

25. Der Unternehmer O.

Die Geschichte ist vielleicht ein kleines bisschen ausgeschmückt. Er war bei meinem alten Arbeitgeber oft mein Fahrgast.

Der Unternehmer O. hat eine Firma im Kunstoffbereich betrieben. Es lief wie geschmiert. Er wohnte mit seiner schönen Frau und zwei hübschen Töchtern in einem grossen Einfamilienhaus, er ging mit seinen eigenen Hunden im Ausland auf die Jagd, er wirkte als Hobbykoch und im Mittelmeer lag seine schnelle, zweimastige Segelyacht.

Dann machte einer seiner grossen Kunden Konkurs, ein anderer verlegte seine Fabrik ins Ausland und der dritte grosse Kunde konnte nicht verhindern, dass auch der Unternehmer O. Bankrott machte. Auch sein privates Idyll löste sich auf. Seine Töchter aber hielten zu ihm und eine der Hübschen war mal dabei, als er zu einem Doktor fuhr. 

Aber O. blieb Unternehmer, jetzt halt in eigener Sache. Um sein restliches Geld zu strecken, wanderte er nach Ungarn aus und als geborener Zürcher lernte er Ungarisch. Aber das Schicksal verfolgte ihn: Durch eine Krankheit verlor er ein Bein.

Invalid, wie er nun war, kam er zurück in die Schweiz. Die Stadt kümmerte sich um ihn und brachte ihn vorerst in einem Hotel unter. Auch invalid blieb O. Unternehmer: Er half umgehend, das Hotel in Schuss zu halten: Er wurde ihr Stromer. Irgendwo hatte er auch das gelernt.

Dann offerierte ihm die Stadt eine kleine Wohnung in System der Stiftung für Alterswohnungen, eine kleine, hübsche, alte Anlage im Norden der Stadt. Dort stiess er auf ein paar alte Frauen, die schon länger dort wohnten und Trübsal bliesen. O. müsste keine Unternehmer sein! Jetzt jedenfalls jassen sie jeden Nachmittag, eine der Frauen backt einen Kuchen, später gehen sie zum Weisswein über, sie haben es lustig, O. erzählt Anekdoten aus seinem reichen Leben, sie reden viel und fallen abends müde, zufrieden und ein wenig beschwipst ins Bett, um es morgen wieder lustig zu haben.

O.: Einmal Unternehmer, immer Unternehmer, Schicksal hin oder her! Er hat sich dem bitteren Schicksal offensiv gestellt, nichts hat in verbittert gemacht.

26. Männergeschichten

Zwei Aspekte lassen sich von Männern gefahrlos behaupten: Die Funktionsphilie und die Offensivität. Diese zwei Geschichten erzählen vom zweiten, der Offensivität, in der Initiative, Mut, Frechheit, Alertheit, Offenheit enthalten ist, Offenheit für Möglichkeiten.

1. Dreifach falsch, aber folgenlos

Ich fuhr eine Zeit ein privates Büs'chen, das einen Shuttle-Service für eine Firma durchführte, vom Bahnhof zum Firmensitz. Es steht als einziges Büs'chen hinter dem Bahnhof, ist viel kleiner als die öffentlichen Busse und es ist nicht mit einer Busnummer versehen.

Am Bahnhof steigt ein neues Gesicht ein. Das kommt öfter vor, weil es eine internationale Firma ist. Dieser Mann indessen blieb bei der Ankunft unschlüssig im Bus. Als ich ihn ansprach erzählte er, er habe den Bus für einen öffentlichen Bus gehalten und er habe zu einer Sportanlage fahren wollen. Er war also schon auf der falschen Seite zum Bahnhof hinausgegangen. Nun, sagte ich ihm, die Sportanlage sei in der anderen Richtung. Darauf er: Es hätte ja sein können, dass dieser Bus zum seinem Ziel gefahren wäre.

Ich nahm in zum Bahnhof zurück und schickte ihn zu den Bussen auf der anderen Seite des Bahnhofs. Es hat ihn nichts gekostet.

2. Der Schleichweg

Dieser Schleichweg kann an einigen Abzweigungen angezapft werden. Die letzte Möglichkeit besteht allerdings bereits in Sichtweite des Staus am neuralgischen Punkt, dem ausgewichen werden soll.

Dort, also ganz zuletzt, zweigte ich an einem Winterabend ab und fuhr meinen Schleichweg. Beim nächsten Verkehrslicht an einer Hauptstrasse stürmte der Fahrer des Fahrzeuges hinter meinem zu mir vor mit einen kurzen Dank dafür, dass ich ihm einen neuen Schleichweg gezeigt habe.

Ich staunte bei beiden nicht schlecht über diese Unverfrorenheit, dieses Ultraschnellentschiedene und diese letztlich richtige Risikoeinschätzung. Der Schleichwegentdecker hatte mein Abzweigen als Taxi und den Stau vorne blitzartig kombiniert, die Gesamtsituation nullkommaplötzlich richtig gelesen, zeitverzugslos entschieden und auch den Blinker gestellt. Ich kann es mir nicht verkneifen zu sagen: Grossartig!

Auch die Geschichten 19, 22, 23 und 25 enthalten Elemente dieser Offensivität.

27. Sic transit gloria mundi

Die Vergänglichkeit ist oft schwer zu ertragen. Eine alte Frau fährt vom Doktorbesuch in die nahe Wohnung, weil sie nur noch eingeschränkt gehen kann. Auf diesem kurzen Weg klagt sie bitter und immer dem Weinen nahe, was sich seit einem Jahr für sie verändert hat:

"Vor nur einem Jahr habe ich noch fröhlich und gut mit meinem Mann zusammengelebt. Wir hatten ein Auto und wir machten regelmässig Ausflüge damit und wir gingen damit einkaufen. Abends habe ich etwas Kleines gekocht und wir tranken ein Glas Rotwein dazu.  Ich war noch ziemlich gesund. Dann ist im Herbst plötzlich und unerwartet mein Mann verstorben. Kurz danach bin ich schwer erkrankt und jetzt kann ich kaum mehr gehen. Es war noch so schön letzten Sommer, alles war in Ordnung, die Zukunft war intakt. Jetzt kann ich nicht mal mehr selber einkaufen, weil ich zwei Stöcke brauche und nur wenige Meter am Stück gehen kann. Und ich bin einsam und allein! Alles Schöne ist untergegangen. Es ist so traurig, alles!"

Ich konnte ihr nicht helfen.

28. Young hearts are foolish

Eine junge,  feingliedrige, kleine, blonde und hübsche Frau fährt mit ihrem Kindergärtlersohn zum Flughafen. Das ist ihre Geschichte:

Sie stammt aus einem südlichen Land. Sie ist in die Schweiz arbeiten gekommen. Hier hat sie einen Landsmann kennen- und lieben gelernt. Nach der Heirat startete ihr Mann ein eigenes Unternehmen. Sie als gelernte Buchhalterin führte das Büro und machte die Buchhaltung. Sie hielt ihm den Rücken frei, wie man so sagt. Ihr Sohn kam auf die Welt und das Unternehmen begann nach schwierigen Anfängen zu florieren. Alles war geritzt, sie hatten eine schöne Zukunft vor sich. Ihr Sohn hätte hier gute Chancen gehabt.

Aber sie fuhr zum Flughafen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Sie ist geschieden und sie hat in ihrem Herkunftsland einen Job gefunden.

Young hearts are foolish, they throw their love away!*

"Young hearts are foolish, they make such mistakes". Aus: Fairground Attraction, "Perfect"

29. Das Ende ist in Sicht

Diese Geschichte stammt vom gleichen Morgen wie die vorangehende. Manchmal fällt uns Strassenmenschen das Leben  mächtig an.

Ich habe sie auch schon abgeholt. Er am Rollator, sie an zwei Stöcken. Ihre Zweisamkeit ging an diesem Morgen zuende.

Sie haben einen ziemlichen Weg zum Taxi. Diesmal dauerte es noch länger als üblich. Ich ging nachschauen. Er kam nicht mehr weiter. Er kniete vor seinem Rollator. Zu zweit, ein anderer Mann war dazukommen, konnten wir ihn nicht aufheben. Als die Ambulanz aufgeboten war, ging sie einen  Schirm holen. In dieser Zeit fiel er ganz um. Ich hinterliess meinen Kindersitz als Kopfunterlage und machte Platz für die Ambulanz.

Wenn einer den anderen nicht mehr aufheben kann, wenn er hinfällt, dann ist üblicherweise das Pflegeheim die nächste Station. In ein Pflegeheim kommt man als Täxlerer selten, ohne das eine frische Todesanzeige am Anschlagbrett hängt. Es ist für viele ihre letzte Station. Das ging mir bei diesem defekten Mann, der bei klarem Verstand war, durch den Kopf, und es machte mich traurig. 

In den ersten Wochen des Jahres 2012 fand sich in der Zeitung eine Todesanzeige.

30. Wo bin ich?

Ein junger Mann winkt mich heran. Er will zum dem relativ neuen Standort der UBS im Oberhaus an der Gessnerallee fahren. Das wusste ich noch nicht, denn er sagt nur die Adresse inklusive einer Hausnummer. Ich beginne laut zu spekulieren, wo das etwa sein könnte. Darin kommt der Basisgedanke vor, dass die Hausnummern vom See her gezählt werden. Darauf er: "What, there is a lake in Zürich!"

Er war schon einige Male in Zürich gewesen. Immer eine Hetze vom der einen in die nächste Sitzung. Den See hat er dabei nicht entdeckt.

31. Eine Besonderheit der Frauen

Die folgende Erfahrung habe ich nur mit Frauen gemacht. Es betrifft natürlich nicht alle Frauen. Dasselbe Verhalten habe ich von Männern noch nie erlebt. Es geht um das Ausleben von Nervosität.

Wenn die verbleibende Zeit nicht reicht oder nicht zu reichen droht, um rechtzeitig anzukommen, dann werden viele nervös. Einzelne Frauen flippen dann völlig aus, stöhnen bei jeder Verzögerung durch ein Rotlicht laut auf, quengeln und atmen schwer, rutschen auf dem Sitz hin und her, werden unansprechbar, hadern lauthals mit ihrem Schicksal, kritisieren die Routenwahl, glauben, mit einem anderen Verkehrsmittel schneller ankommen zu können. Sie reden unablässig und oft im Kreis herum; die Klagen wiederholen sich. Ihr Lamentieren nimmt kein Ende. Sie schweben auf ihrer ausgelebten Nervosität wie auf einem fliegenden Teppich unter Verlust der Bodenhaftung. Sie sind unansprechbar und darum auch nicht zu beruhigen.

In zwei von drei erlebten Fällen reichte die Zeit aus, wir kamen also rechtzeitig an. Der gefühlsmässige Aufruhr  war also meist vergebens.

Beim letzten Fall erzählte ich die Erfahrung einem männlichen Fahrgast. Der Gast erzählte darauf folgende Geschichte: Er holte am Flughafen in Berlin eine Freundin ab und zusammen fuhren sie im Taxi in die Stadt. Da plötzlich vermisste diese Frau ihre Handtasche und sie begann Zeter und Mordio zu schreien und unablässig laut zu lamentieren. Seine beruhigenden Einwände hörte sie nicht bis sich der Taxichauffeur umwandte und sie anschrie: "Halten sie endlich mal die Klappe!" Das hat geholfen. Sie rief an und vereinbarte, wo sie anderntags die inzwischen gefundene Tasche würde abholen können.

Weil man als Taxichauffeur immer ein bisschen um Ruhe und Ausgeglichenheit kämpft, gibt es kein stärkeres Gift als einen ungehemmt nervösen Gast. Im Auto kann man sich kaum abgrenzen. Meist dauert es mehrere Stunden, bis ich nach so einer Attacke meinen Frieden wieder gefunden habe.

Nachtrag vom 15.09.2011. Der Spiegel (Nr. 37 vom 12.09.11) berichtet auf Seite132 unter dem Titel "Hibbelige Frauen" von britischen Forschern, die 15000 Leute untersucht haben, die regelmässig mit dem ÖV pendeln. Frauen kommen beim Pendeln viel weniger zur Ruhe als Männer. Frauen sind viel öfter nervös.

Nachtrag: Ein Erklärungansatz: Weiter unten gibt es zwei Bilder von den Gehirn-Prozessen und Verkabelungen bei Frauen und Männern. Darin lässt sich sehen, dass bei Frauen die seitenquerenden Beziehungen das Wesentliche sind, während bei Männern die seitengetrennten Längsbeziehungen herausstechen. Das nervöse Flattern bei Frauen ist ein hin- und her zwischen Logik und Intuition. Ausserdem ist der Weg zur Aktion für Frauen beschwerlicher, weil die Beziehungen zum Umsetzungszentrum hinten im Gehirn fast brachliegen. Die Männer schlagen sich mit einem Gedanken auf eine Seite, um dann in Ruhe abwarten, was noch geschieht, egal ob die Zeit reicht oder nicht. Sie werden nach der Ankunft beschliessen, was jetzt am besten zu tun sei.  Quelle für das Bild: Economist 2013/49 S. 74. Die Forschungsarbeit dahinter kommt von Ragini Verma von der University of Pennsylvania

32. Kleine Ursache, schlimme Wirkung

Sie hatte sich im Leben eingerichtet. Im Sommer servierte sie im Tessin, im Winter in Zürich. Immer in anderen Beizen, dort wie hier. Die Instabilität gefiel ihr, sie nannte sie willkommene Abwechslung. Sie war noch jung, kaum dreissig.

Servierfrauen und -männer können gut leben von ihrem Verdienst, aber reich werden sie nicht. So versuchte sie, dort zu sparen wo es sich anbot. Die Freundin einer Kollegin bot ihr eine Fuss- und Nagelpflegebehandlung an. Immer auf den Beinen war das willkommen. Bei dieser Behandlung entstand eine Infektion. Als sonst kerngesunde Person verpasste sie eine rechtzeitige Arztkonsultation. Im Ergebnis verlor sie das rechte Bein. Es musste bis unter dem Knie amputiert werden.

Ein wenig haderte sie schon, aber umgehauen hat es sie nicht. Sie fand es reizend, dass sie immer noch die Beine kreuzen konnte.

33. Ein alter Mann zetert

Den Namen der Bank, wo er hinfahren wollte, hatte er  vergessen, aber das Rückgeld hatte er blitzschnell berechnet. Er ist Holländer, achtzig Jahr alt.  Er redete fast ohne Punkt und Komma. Das ist, was er sagte, vorausgesetzt ich habe ihn richtig verstanden und stark verkürzt:

„Gestern haben sie mich in ein anderes Hotel verschoben, weil sie doppelt gebucht hatten. Mit der Schweiz geht es auch zu Ende. Ich bin mit viel Achtung vor der Schweiz aufgewachsen und ich habe hier die Matura gemacht. Die Schweizer passen sich nicht mehr an. Die Gesellschaft ist zerfallen. Dass die Frauen mehr zu sagen haben, hat auch nichts geholfen. Die Schweiz gefällt mir nicht mehr. Sie ist zu fett und zu träge geworden, vom Luxus korrumpiert.

Jetzt ist ihr Geld viel wert und sie kaufen in Deutschland, was sich anbietet. Verräter sind das. Ich weiss seit dem 2.Weltkrieg, was Verräter sind. Damals waren die Schweizer schon Hasenfüsse, man wisse ja nicht, sagten sie, ob Hitler gewinne.“

Ich frage dazwischen, woran sich der Schweizer denn anpassen müsse.

„Gerade das ist es: Sie wissen nicht mehr, wo man sich anpassen muss und wo nicht. Die Männer sind keine Männer mehr und die Frauen verstehen davon nichts.“

Als er bezahlt hatte, meinte er entschuldigend, er habe es jetzt wieder einmal sagen müssen. Ich beruhigte ihn: Wir Taxifahrer bekämen vieles zu hören.

Ausgestiegen bemerkte er mit polemischem Unterton, er gehe jetzt zu dem Geld schauen, das zufällig ihm gehöre und nicht der Bank.

34. Ein psychisches Drama

Zu noch dunkler Stunde hole ich einen Arzt ab, der zum Flughafen will. Weil ich fälschlicherweise bei der Praxis vorbei ging, wusste ich, dass er sich für eine Fortbildung abgemeldet hatte. Es hing ein Zettel an der Haustür.

Ich weiss nicht mehr genau und im Einzelnen, wie wir darauf gekommen sind. Jedenfalls erzählte er, dass er nie gut schlafe. Dann setze er sich an den Computer und recherchiere. Er arbeite an einem wissenschaftlichen Thema. Vor fast zehn Jahren hat er begonnen, seine Schlaflosigkeit zu ergründen. Vor etwa fünf Jahren half ihm ein Buch entscheidend weiter, ein Buch über Angstzustände. Er sei als kleines Kind oft zu einer Tante in die Berge verstellt worden. Eines Abends als er fünf Jahre alt war, verkündete ihm seine Mutter, er müsse am folgenden Tag alleine in die Berge fahren. Die folgende Nacht ist zum Horrortrip geworden, inklusive Fäkalien im Bett.  Er sei so falsch konditioniert worden und das sei der Grund für seine Schlaflosigkeit. Im Kern sei es eine Angst vor der Nacht.

Er hat noch anderes erzählt gegen den Flughafen immer schneller: Er arbeitet viel, Schlafmittel funktionieren nicht, eine Tante hat im später erzählt, was vor dieser schlimmen Nacht bei seinen Eltern passiert war, der Sauerstoffgehalt werde zu wenig erhoben, ausser von den Rettungssanitätern, der ÖV konnte ihn nicht rechtzeitig an den Flughafen bringen. Kurz: Es war ein Sturzbach. Wahrscheinlich lebt er alleine. Müdigkeit und Reisefieber löste die Zunge, das Taxi ist ein Kokon, er schliesst andere Zuhörer aus.

Die offene Frage ist, wie sich der Grund auflösen, dekonditionieren lässt. Er machte den Eindruck, dass er alles alleine lösen will. So weit ist er schon gekommen. Aber er schläft noch immer nicht gut. Es erstaunt, wie hartnäckig so eine Fehlkonditionierung in die  Psyche eingeschrieben bleibt.

35. FIAZ

So heisst das Fahren im angetrunkenen Zustand bei den Juristen. Wenn junge Männer ein Taxi nehmen, dann drängt sich die Frage auf, warum sie nicht selber ein Auto fahren. An einem Morgen hatte ich zwei davon im Auto. Das sind diese zwei Geschichten.

Er war nach dem Ausgang mit dem Auto unterwegs nachhause. Er hatte sich zurückgehalten und nur wenig Alkohol getrunken. Alles lief glatt, er machte keinen Unfall und keine auffälligen Fahrfehler. Da plötzlich wurde er dennoch von der Polizei angehalten: Ein Licht funktionierte nicht am Auto! Es kann die Nachtstunde gewesen sein oder aber die Polizisten schöpften Verdacht, jedenfalls überprüften sie den Alkoholpegel. So verlor er seinen Fahrausweis für eine Weile.

Der andere junge Mann war stärker alkoholisiert. Er klatschte seinen Wagen gegen ein Objekt am Strassenrand. Das Auto fuhr indessen noch und er fuhr damit heim und stelle das demolierte Fahrzeug in die Tiefgarage. Unschlüssig, was damit zu tun sei, kaufte er ein neues Auto. Eines frühen Morgens an einem Samstag läutete es bei ihm: Die Polizei stand vor der Tür. Die Polizei trug Indizien zusammen und es genügte, ihm den Ausweis für ein halbes Jahr zu entziehen. Ein Nachbar hatte das kaputte Auto der Polizei gemeldet. Sie werden nicht Freunde.

Bei beiden war der Ablauf ganz frisch. Der Erste wusste noch nicht, wie lange es ihn treffen würde, beim anderen war der Entscheid 10 Tage alt.

36. Thematisches Wellensurfen, a way of Life!

Zwei noch junge Frauen steigen ein, keine Schönheiten und provinziell aufgemacht und angezogen. Sie fahren zum Flughafen.

1.  „Zuletzt hat  er sich abgefunden. Hast du gesehen, wie er ihr die Hand abgeschleckt hat? Alle haben sich drein geschickt, da blieb ihm nichts anderes übrig.“

2.  „Das denke ich auch. Es blieb ich nicht anderes übrig.“

1. „Sie wird schon zurecht kommen mit ihm.“

2. „Das glaube ich auch, so, wie er sich zuletzt verhalten hat.“

1.  „Das tut gut, keine Zahlenkolonnen, keine Abschlüsse." Ferien!

2.  „Mir geht es genauso, ich freue mich. Siehst du den Riesenverkehr da drüben n?

1. „Ja, warum, warst du auch mal drin?

2  „Nein, aber ich höre es am Radio. Man muss schon aufpassen, vor allem in der Stadt. Auf der Autobahn ist es leichter“

1. „Da muss man auch aufpassen. Plötzlich stoppt einer oder er wechselt unversehens die Spur.“

2. „Schon, aber in der Stadt die vielen Velofahrer und Fussgänger.“

1. „Darum fahre ich nicht mehr Auto. Ausserdem: Wenn es regnet kann ich nicht fahren oder in der Dämmerung nicht. Also fast nie, da habe ich es aufgegeben. Obwohl, so ein kleiner Fiat 500, ferarrirot mit Ledersitzen, das wäre schon schön. Und nach X kämen wir auch schneller mit einem Auto. Aber nun, es geht auch so!“

2. „Ich fahre einfach lieber Autobahn. Wie machen wir es, wenn wir ankommen?“

1. „Wir nehmen wieder ein Taxi. Es ist nicht so weit“

2. „Oh, ich wäre lieber schon da!“

1  „Schon, aber jetzt warten wir erst mal ein paar Stunden am Flughafen! Wir müssen zum Terminal B, oder wie heisst er heute?

Ich: „Terminal 2. Sie sind nummeriert. Buchstaben gibt nur noch in den Spitälern. Stock C, D etc.“

1. „Ja genau. Ich war schon lange nicht mehr am Flughafen“ Kurze Pause.“ Ich zahle!“

1. „Nein-nein, das übernehme ich.“

Zahlvorgang

1. „Aus diesem Auto kann man gut aussteigen, besser als beim Auto von Papi.“

Und dann kommt das Einchecken, die Leute im Flughafen, die Preise im Flughafen, die Leute, das Angebot im Flughafen, die Leute, der Zoll, die Leute, das Boarding, die Leute, der Service an Board, die Leute,  dann kommen Tränen, die Leute, die Krankheiten, die Leute, und dann der Tod. Fertig geredet.

War der Grund die Anwesenheit eines Dritten? Kaum. Das ist gut ersichtlich in anderen Geschichten, die hier stehen. Es bleibt dabei: Plappern als Way of Life!

37. Unkultur im Krankenhaus

Ich fahre eine junge Frau zufälligerweise mehrfach. Sie fährt zu unregelmässigen Zeiten zur Arbeit. Der Grund dafür liegt in der Geschichte, die sie mir erzählt hat.

Sie spürt eines nachts Schmerzen. Über die nächsten Tage wird es schlimmer und eines Nachts hält sie es nicht mehr aus und sie geht in den Notfall des Universitätsspitals. Als sie dort an die Reihe kommt, schicken sie sie mit guten Worten wieder Heim. Keine Untersuchung, keine Medikamente! Sie googlelt und sie findet einen Verdacht, was es sein könnte. Sie konsultiert einen Arzt, der in zwei Minuten herausfindet, was es ist: Ein subkutaner Abszess. Der Arzt meldet sie im Spital an und dort wird sie noch gleichentags operiert.

Die Genesung ist langwierig. Die starken Medikamente setzen ihr zu. Sie hat Spitex-Unterstützung.

Ein unbehandelter Abszess kann wahrscheinlich über eine Blutvergiftung zum Tode führen. Sie konfrontiert die Spitalführung mit der Fehlleistung der Notfallstation und sie verlangt eine Entschuldigung. Die erfahrenen Spitex-Leute sagen ihr, das werde sie nicht bekommen, eine Entschuldigung. Aber sie bekommt eine, eine mündliche, von der Spitaldirektion.

38. Ein armer Kerl

Beim Waidspital in Zürich hole ich einen kleinen, alten Mann ab. Er wird zu  einem Pflegeheim am linken Zürichseeufer gefahren. Dabei erzählt er.

Er erzählt sein langes Leben, vor allem sein  Berufsleben, das von vielen Wechseln und Wendungen geprägt war. Einmal hatte er sogar ein eigenes Café betrieben, aber auch als Knecht auf Bauernhöfen gearbeitet, in der Industrie und im Gewerbe. Er hat es nie auf einen grünen Zweig gebracht, trotz harter Arbeit. Aber das Wesentliche an dieser atemlosen Erzählung war, dass es in diesem Leben nie Trauer gab, keine Liebe, keine Freundschaften und keine Erleuchtung, er gab nur die geschichtslose, einsame Not. Darunter hat er nicht gelitten, weil er nichts anderes gekannt hat.

Jetzt ist er von Schmerzen geplagt, die von hoch dosierten Schmerzmitteln nur unzureichend bekämpft werden. Arthrose.

Im Pflegeheim wurde dieser gebeugte, bringe, einsame Schmerzensmann mit einer hellen und zuckersüssen Neonstimme begrüsst: „Grüezi, Herr Imhof, wir heissen sie herzlich willkommen und wir hoffen, dass sie sich bei uns wohl fühlen!“

P.S. Wie bei der Frau, die seit vierzig Jahren in einer Anderthalbzimmerwohnung lebt, frage ich mich auch in diesen Falle, wo die Träume geblieben sind, die Wünsche, und wo deren Kraft.

39. Das Verhältnis zu einem Schicksal

Es kommt oft vor, dass ein Dialysepatient im Taxi sitzt. An einigen Fällen soll hier gezeigt sein, wie divers die verschiedenen Betroffenen darauf reagieren.

1. Negativ

Sie war nicht mehr jung, über 60 sicher. Sie war oft mein Fahrgast und sie hat ihr Schicksal Dialysepflicht nur schwer ertragen.  Eines Winterabends erzählt sie auf der Rückreise vom Spital, sie habe im Spital gesagt, dass sie nicht mehr zur Dialyse komme. Man habe sie davon abbringen wollen. Auf dieser Fahrt fanden wir noch heraus, dass sie die Tante eines Schulkollegen war. Dann sah ich sie nicht mehr. Als ich mich nach ein paar Wochen erkundigte, erhielt ich die Auskunft, sie sei gestorben. Sie hatte ihren Entschluss umgesetzt. Sie konnte nicht mehr leben mit der Dialysepflicht.

2. Neutral

Sie geht in einer Praxis in die Dialyse, nicht in einem Spital, immer am Morgen. Wenn sie nachhause kommt, hat ihr Freund gekocht. Sie freut sich darauf. Nach der Dialyse sind viele sehr müde. Sie schläft am Nachmittag ein paar Stunden, was ihren Freund nicht störe. Er gehe seinen Hobbies nach, was ihm recht sei. Gemeinsame Aktivitäten ausser Haus werden auf die pflichtfreien Tage gelegt. Sie lebt gut und zufrieden, sie ist ausgeglichen und fröhlich. Die Dialyse ist nichts Erfreuliches, aber das Leben lässt sie sich dadurch nicht vermiesen. Es bedeut nicht viel, sagt sie selber, weil sonst in ihrem Leben alles stimmt.

3. Positiv

Er lebt in einem Pflegeheim und er geht immer frühmorgens in die Dialyse, in ein nahes Privatspital. Er ist hoch erfreut über seine Lage, denn bei ihm wurde der Dialysebedarf viel zu spät entdeckt. Er wurde immer schwerer und er konnte sich nicht mehr bewegen, was ihn in den Rollstuhl zwang. Er fühlte sich mies und krank und invalid. Dann endlich fand ein Doktor heraus, was ihm fehlte. Jetzt ist er ein altes und bringes, sprich ein dünnes Männlein, das sich ohne Stock und Hilfsmittel bewegt. Er ist unendlich dankbar und hoch zufrieden, weil er wieder autonom ist und weil er sich nicht mehr krank fühlt. Er bräuchte das Pflegeheim nicht mehr, aber er ist einfach geblieben. Er ist dankbar, dass dass er in die Dialyse gehen kann.

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Vielleicht lief es bei ihm so holprig, weil er Ausländer ist, weil er nicht so gut deutsch spricht. Der Eindruck, dass Hippokrates mit Fremdsprachigen wenig Geduld hat, hat sich schon in anderen Fällen gezeigt: Die Frau aus Geschichte 37 ist auch Ausländerin, in England aufgewachsen, wahrscheinlich in einer indischen Immigrantenfamilie, kultiviert, gebildet, aber sie spricht kein Deutsch.

 

40. Aus der Prostitution

Weil ich um 0500 Uhr mit der Arbeit beginne, bin ich oft  vom zu Ende gehenden Nachtleben betroffen. Dazu gehören Prostituierte. Zu dumm, dass die erste Geschichte damit nichts zu tun hat, mit der Zeit.

1. Wer ist Prostituierte?

Aus der Medien scheint klar, woher die Prostituierten kommen: Aus dem Osten vor allem, aus Südamerika. An einem sonnigen Nachmittag hohle ich an einer unverdächtigen Adresse im bürgerlichen Kreis 7 ein Frau ab. Im wunderschönen Jugendstil-Treppenhaus erst wird mir klar, dass sie aus einem Bordell kommt.

Sie ist Schweizerin und sie arbeitet als Kindergärntnerin. Wie ist sie zur Prostitution gekommen? Durch eine Kindergarten-Kollegin. Sie habe sie angesprochen und darauf aufmerksam gemacht. Sie habe es ausprobieren wollen und sie sei dabei geblieben für jetzt drei Jahre. Sie wolle indessen bald aussteigen. Sie findet es interessant und nicht unangenehm. Das Nebeneinkommen habe ihr viel ermöglicht, Auto, Ferien, eine bessere Wohnung. Aber es sei immer schwieriger, alles unter einen Hut zu bringen, obwohl die Tätigkeit im Bordell äusserst flexibel sei.

2. Komplizierte Kunden

Es ist eine Bestellung. Eine Prostituierte und ihr Kunde steigen ein, an einer Seitenstrasse der Langstrasse. Wir fahren zu seiner nahen Wohnung, von wo er mit einem kleinen Koffer zurückkommt. Dann zurück zu ihrer Absteige. Er wohnt ein paar Meter vom Paradeplatz entfernt direkt an der Sihl, mit Sicht auf einen alten Park, sehr aussergewöhnlich, wo es da nur noch Büros zu geben scheint.

Als er aus dem Auto ist sagt sie sofort: "Ich arbeite als Prostituierte und ich bin legal." "Das müssen sie mir nicht sagen, ich bin kein Polizist". "Ah ja, gut, stimmt." Sie muss auch wissen, dass man ihr ansieht, vom Outfit her, was sie tut.

An ihm ist sehr auffällig, dass er seine Beklemmung nicht ablegen kann. Er ist ein bisschen nervös, er verhält sich wie ein Ertappter, so, als ob er sich verurteilt fühlt, vielleicht vom einzigen Nichtbeteiligten als Verkörperung einer Allgemeinheit oder seines Überichs. Mit gesenktem Kopf zahlt er am Schluss und schiebt mir die Scheine hinüber als ob es Schwarzgeld wäre oder Hehlergut. Er kann sich offenbar nicht vorstellen, dass es mir vollkommen egal ist, was er tut und lässt.

Er verrät nicht, dass ich höchstens denke, er sei ein bisschen kompliziert, mit seinem Köfferchen, wo ich doch noch nie einen potentiellen Freier gesehen habe mit Köfferchen. An der Langstrasse und ihren Seitengässchen trägt niemand Köfferchen herum. Wichtig ist da nur, dass man genug Bargeld auf sich hat.

3. Walk the Line

Nicht weit vom Wohnort des Protagonisten der letzten Geschichte hole ich einen Mann in einem bekannten Bordell ab. Es ist Winter und noch dunkel. Zwei nackte Frauen schieben ihn in das Taxi. Er ist schwer angeschlagen, verladen. Aber er weiss, wohin er will: Zu seiner Wohnung, wo er mit seiner Frau am linken Seeufer wohnt, mit Seesicht. Von der Wohnung höre ich sie schreien: "Get a new shirt an go, go, go!". Er hat seine Kreditkarte im Auto verloren. Er erscheint wieder und wir fahren zum Bahnhof Enge, wo ich ihm helfe, einen Kaffee zu kaufen. Am Bancomat spricht er zwei junge Frauen an, die ihn anschauen und kichern. Er ist immer noch wîe betrunken. Er erzählt, dass er ein gefährliches Leben führe, dass Risiko liebe. Ich frage ihn, ob er ein Meeting habe. Nein, heute nicht, zum Glück. Er arbeitet bei einer Grossbank.

Später telefoniert mir seine Frau. Sie will mehr wissen. Aber sie stellt die falschen Fragen, ihre Arbeits- und Denkhypothesen sind noch viel zu weit von der Wahrheit entfernt. Sie erfährt von mir nicht, wo ich ihn abgeholt habe. Früher oder später wird sie erfahren, wen sie geheiratet hat. Es wird ein schwieriger Moment sein in ihrem Leben.

4. Verschlungene Wege

In einem Bordell in einer Seitenstrasse der Langstrasse hole ich am hellichten Tag einen vielleicht vierzigjährigen Mann ab. Er ist mit Drogen und Alkohol energetisch auf bedenkliches Niveau abgesunken. Am Schluss der Fahrt kann er nicht zahlen. Aber er versichert mit, er sei Zahnarzt und er müsse nur mal wieder ein paar Tage arbeiten, dann könne er alle Schulden zahlen. Ich notiere mir Namen und Adresse und lasse ihn ziehen. Ich glaube ihm nicht: Hochstapler!

Ein halbe Stunde später ruft jemand an, er zahle die Fahrt für diesen Zahnarzt.  Dochdoch, es stimme, er sei Zahnarzt.  Ich solle zu ihm kommen. Es ist ein Laden für Kaffeemaschinen. Warum übernimmt er diese Kosten? Der Zahnarzt sei ein Bekannter von ihm und er sei der Lieferant unserer Zentrale. Da dort seine Verbindung zu diesem Zahnarzt bekannt sei, könne er es sich nicht leisten, die Fahrt nicht zu bezahlen. Er wolle kein Risiko eingehen.

Wer soll das glauben? Die Zentrale war nicht, noch nicht informiert über die fehlende Zahlung. Die Zentrale würde zudem die fehlende Zahlung nicht dem Kaffeemaschinenhändler anlasten, sondern einzig dem Nichtzahler.

Aber es zeigt etwas anderes: Was sich die Firmeninhaber alles überlegen, um Risiken zu eliminieren! Auch das kleinste Risiko soll entdeckt und dessen Realisiung verhindert werden. Die Geschichte zeigt, dass das Risikobewusstsein bis zu einer deutlichen Unwahrscheinlichkeit vorgetrieben wird und selbst dort noch handlungsleitend wirkt.

P.S. 1 Kürzlich kaufte ich eine neue Kaffeemaschine. Da die alte Maschine am Wochenende den Geist aufgegeben hatte - Murphys Law kommt bezüglich der Zuverlässigkeit der Schwerkraft nahe - wollte ich am Montag eine Lösung finden. Ich ging zu diesem Kaffeemaschinenhändler. Er hatte den Laden am Montag geschlossen. Er ist von COOP, Migros und Denner umzingelt, von Apotheken und Detailhändlern, die alle am Montag offen sind. Auf dem Land, in einem Aussenquartier bitte, aber doch nicht an so einem Ort! Ich fand die Lösung in der Sihlcity, ein Einkaufszentrum, das wahrscheinlich 360 Tage offen stünde, wenn es legalerweise dürfte. So ein Risiko wird also verdrängt.

P.S. 2  Drogenreduzierte Personen sind mir in den letzten Jahren nur aus Bordellen begegnet. Zwei von den vier Geschichten zeigen solche Figuren. Sind die Bordelle bedeutende Drogenumschlagplätze? Wenn das stimmt, sind die Bordelle dann nicht auch ein Mafiaarm in die Wirtschaft? Hat man davon schon gelesen? Ich nicht.

Ergänzung vom 15.03.2017: Aus einem Bordell in der Nähe des Centrals  ist letzte Woche ein Mann aus dem vierten Stock zutode gestürzt. Die Polizei ermittelt. Sicher ist nichts, aber ein Verdacht drängt sich auf: Drogen, Kokain vielleicht!

5. Aufgekratzt und fröhlich

In einer Aussengemeinde hole ich zwei Prostituierte ab. Sie sind äusserst fröhlich und aufgekratzt. Sie lachen über alles. Auf die Frage, was sie denn getrunken hätten, sagt eine, "ein Mixgetränk". Mit was den gemixt, frage ich weiter. Sie: Unter schwerem Lachen, "mit Alkohol". Es geht nicht ohne Drogen oder Alkohol, jedenfalls nur ausnahmsweise.

Die Frau aus der zweiten Geschichte war supercool und komplett nüchtern, obwohl es schon zu tagen begann. Daraus geht hervor, dass sie einen besseren Modus vivendi gefunden hat, jedenfalls einen mit weniger Alkohol und Drogen.

6. Ein Mann begründet

plus ein Mentalprogramm aus 20 Worten und ein Beispiel aus der Literatur.

Am späten Nachmittag eines Sommertages hole ich einen Mann in einem Hotel ab. Er will zur Langstrasse. Er ist nicht zum ersten Mal hier. Auf der Fahrt mäkelt er an seiner abwesenden Frau herum, sie kenne nichts und verstehe nichts. Darum freue er sich, wenn er auf Reisen sei, Frauen zu treffen, die alles kennten und als machten. Nein, in Nachtclubs gehe er nie, denn an kaltem Fleisch habe er kein Interesse. Darum der späte Nachmittag. Er ist ziemlich verstrickt und er weiss es nicht.

Mentalprogramm

Es gilt, in jeder Situation das Gute und Reizvolle mitzunehmen und so den Zirkel aus Erwartung und Enttäuschung zu unterlaufen.

Beispiel aus der Literatur

In Brigitte Kronauers „Berittener Bogenschütze“ nimmt ihr Protagonist Matthias Roth, ein Literaturprofessor, in einer Verzweiflung einen Pflasterstein nachhause, den er magisch aufzuladen versucht, um seiner Existenz ein wenig Glanz und Boden zu geben. Es misslingt. Der Weg ist weiter. Da steht auch unser Bordellbesucher. Der Wendepunkt übrigens heisst bei einigen Midlife Crisis.

7. Frisch angekommen

Beim Central steigen zwei junge Pärchen ein mit viel und grossem Gepäck. Der Mann, der neben mir sitzt, muss dringend eine neue SIM-Karte haben für sein Handy. Im Hauptbahnhof sind sie nicht fündig geworden.

Sie wollen an die Überlandstr. 79. Wir fahren noch einige Kioske an, aber weil es ein freier Tag war, waren einige geschlossen und die offenen führten auch keine SIM-Karten. Ich verwies auf den nächsten Tag, wo alle Läden wieder in Betrieb seien.

Dann also zur angegebenen Adresse. Es ist ein Bordell. Die beiden Frauen steigen aus, inklusive ihrem voluminösen Gepäck.

Die beiden Männer suchen ein günstiges Hotel. Wir fahren einige an, die sich alle als zu teuer erweisen. Im "Etap" an der Pfingstweidstrasse kostet es 110. — und sie steigen da ab. Sie meinten noch, sie könnten anderntags weiter recherchieren, ob sich noch etwas Günstigeres finde. Am besten wäre eine billige Wohnung.

Unterwegs haben sie erzählt, dass sie gleichentags per Zug von Frankfurt gekommen waren. Sie kommen aus Rumänien. Ich wünschte ihnen viel Glück!

8. Das Geld der jungen Männer

8.1. Von Bordell zu Bordell

In einem Bordell an der Zürcher Mühlegasse holte ich einen jungen Mann ab. Er erzählte mir, dass er am Abend zuvor in Niederdorf mit einer Prostituierten gegangen sei, aber es habe ihm nicht gefallen. Dann ging er gegen 2300 Uhr in das Bordell an der Mühlegasse, wo ich ihn so um 0600 Uhr abholte. Er fuhr zuerst nachhause in Volketswil, um sich dort Nachschub an Geld zu holen und von dort fuhr er direkt wieder in ein Bordell in Hegnau, einem Nachbardorf. Bevor er zuhause ausstieg, um Geld zu holen, sagt er noch, zuhause lägen noch viele Tausender. Die paar Franken für das Taxi fielen dabei nicht ins Gewicht. Er war übrigens ziemlich nüchtern, was nach so einer Nacht in einem Bordell nicht zwingend ist, wie eine vorstehende Geschichte erzählt (Nr. 40-4).

8.2. Alles für sie

An einem Samstagmorgen im Oktober steigt ein junges Pärchen ein. Bevor sie einsteigt, hustet und schnäuzt sich die Frau ausgiebig. Zuerst wollen sie ans Bellevue in die 24-Stunden-Apotheke. Er ist Schweizer, ich rede mit ihm. Er hat nicht herausgefunden, warum sie in die Apotheke will. Vermutlich, um Kondome zu kaufen, meint er. Als sie aus der Apotheke kommt, holen sie gegenüber Kaffee und Gipfeli. Dann fahren wir vom Bellevue nach Volketswil. Auf der Hälfte der Fahrt liegt er mit dem Kopf an ihrem Busen oder auf ihrem Schoss. Wieder kostet das Taxi an die 100 Franken. Peanuts für ihn an so einem Wochenende mit einer Prostituierten. Er zahlt mit einer 200-er Note, die er noch büschelweise mit sich trägt. 

9. Oft läuft es schief

Wenn ein Freier und eine Dirne ihr Habitat verlassen, dann sind sie ein Paar. Sie tauschen Zärtlichkeiten aus, sagen sich Freundlichkeiten und sie pflegen die Einvernehmlichkeit wie andere Paare auch. Anderes sind diese Beziehungen insofern, als sie Fiktionen einschliesst und das macht sie labil.

Ich hole einen Mann und eine Frau in einem Bordell ab. Wir fahren zu seinem Wohnort, ziemlich zentral in der Stadt. Er lässt uns warten. Ich rede mit ihr. Sie sagt, sie würden danach wieder ins Bordell zurück gehen. Er kommt zurück und er will an den Flughafen. Dort holt er Geld. Als er zurückkommt, lädt er sie auf eine Zigarette ein und sie rauchen draussen.

Dann fahren wir in die Stadt zurück. Auf diesem Weg kommt es zu einem Konflikt darüber, wohin sie jetzt gehen, er will zu sich nachhause, sie ins Bordell. Er wiegelt ab, verzögert, aber dann stellt sie fest, sie bestimme jetzt, wohin sie gehen würden. Sie misstraut ihm ein wenig. Auf Nachfrage erklärt er sich einverstanden.

Wir fahren zum Bordell und dort steigt eine zweite Frau zu. Die andere ist überrascht und protestiert. Die beiden Frauen haben eine gemeinsame Sprache, rumänisch, ihre Muttersprache. Sie streiten. Auf halbem Weg zu ihm nachhause, lässt er mich rechts heranfahren. Er sagt, er halte es nicht mehr aus, er wirft einen Tausender ins Auto und geht. Die zweite Frau geht ihm nach, kommt aber erfolglos zurück. Wir fahren zu seiner Adresse und als er nicht mehr reagiert, geht es zurück zum Bordell.

Die labile Fiktion liess sich nicht mehr aushalten. Das Unbehauste bricht sich bahn, die prekäre Existenz zeigt ihre Verletzlichkeit. Er hat etwas versucht, es ist misslungen. Er ist enttäuscht, die beiden Frauen sind enttäuscht. Opfer wo man hinschaut!

Ich solchen Momenten, und so oder ähnlich ist das schon mehr vorgekommen, bin ich überglücklich, seit vielen Jahren in einer schönen Partnerschaft zu leben.  

41. Ein Andenken in vier Kapiteln

Frühling: Das Paar

An einem schönen Frühlingstag steigt, aus einem Restaurant kommend, ein formidables Paar ein. Sie ist gross, schlank, dunkelhaarig und hochklassig angezogen, er  in einem eleganten, hellen Zweireiher.

Im Fond sitzend diskutieren sie ein Thema: Sie argumentiert mit Hegel, Heidegger, Adorno und Chomsky, er mit Kant, Fichte, Schelling und Blumenberg. Beide flechten ungezwungen lateinische Zitate ein. Alles in einem lockeren friedlichen Umgangston.

Was draussen vorbeizieht, wie das Essen war, was sie vorhaben kam nicht zur Sprache. Er zahlte und draussen parlierten sie weiter, bis sie im Hauseingang verschwanden.

Sommeranfang: Der Mann

Vielleicht zwei  Monate später hatte ich ihn allein im Auto. Ich spreche ihn auf seine Begleitung beim letzten Mal an.

Er habe viele Jahrzehnte gehofft, eine Frau wie sie zu treffen. Jetzt sei es grossartig und er freue sich täglich tief und dankbar, dass er sie getroffen und gewonnen habe.

Diesmal erzählt er, dass er in Gossau bei St.Gallen aufgewachsen sei. Er zitiert Schüttelreime aus seiner Jugend. Er betreibt eine Arztpraxis im vorderen Seefeld und wohnt ein paar Strassen weiter. Die Praxis laufe langsam aus, erzählt er.

Sommerende: Die Frau

Vielleicht rund drei Monate später fahre ich ihn zu einem Pflegeheim. Er besucht seine Frau. Sie ist an Demenz erkrankt. Wieder im Auto meint er, es sei nicht der richtige Ort für sie. Er ist traurig, aber entschlossen, alles für sie zu tun.

Er erscheint stark gealtert und übernächtigt.

Herbst: Das Ende

An einem goldigen Herbsttag hole ich ihn in einem kleinen Privatspital ab. Er will zum nahen Zoo. Er sieht wieder besser aus. Beim Zoo lädt er mich zu einem Kaffee ein. Solche Einladungen lehne ich meistens ab, in diesem Fall habe ich zugesagt. Auf der Terrasse beim Zoorestaurant übergibt er mir einen Koffer mit einer Unmenge von Cervelats drin. Im Zoo hätten sie keine Verwendung dafür. Sie seien von einem Fest übriggeblieben.

Er erzählt, dass seine Frau jetzt gut untergebracht sei. „Und für sie ist gesorgt“, stellt er befriedigt fest. Sein Vermögen erfüllt einen guten Zweck. Jetzt sei er krank. Er habe mit seinem  Bruder telefoniert, auch Arzt, aber seit ewig in Amerika. Sie seien sich einig, dass es für ihn gesundheitlich auch heikel sei.

Ein paar Wochen später erreichte die Zentrale ein Schreiben in wunderschöner und leserlicher Handschrift, mit dem er seinen Koffer zurückforderte. Wenige Tage danach erreichte mich auf merkwürdigen Wegen die Nachricht, dass er gestorben sei.

42. Misstöne und was sie uns lehren.

Es kommt vor, dass eine Fahrt mit Misstönen beginnt: Einmal läute ich frühmorgens, obwohl das der Kunde bei der Bestellung verhindern wollte. Selbst wenn ich nicht daran schuld bin, weil der Hinweis bei der Auftragsvergabe fehlte, so entlädt  sich der Ärger trotzdem beim Fahrer. Ein Andermal läuft bei einer Bestellung auf eine fixe Zeit der Taxameter legalerweise ab dieser Zeit, was die Zuspätkommenden manchmal aufregt.

Je nachdem entschuldige ich mich oder ich erkläre den Fall. Dennoch  herrscht  erst Mal dicke Luft, eine Spannung.  

Ich musste lernen,  nur kurz meinem eigenen Ärger nachzuhangen. Wenn ich mich davon befreit habe, versuche ich, ein Gespräch in Gang zu bringen und eine einvernehmliche und wohlwollende Atmosphäre zu schaffen.

Fast immer steigen die Leute darauf ein, dankbar für den Anstoss zu einer Änderung. Am Ende der Fahrt entschuldige ich mich nochmal und  ich verspreche wenn nötig bei der Zentale zu intervenieren, um allfällige Fehler auszumerzen. Nicht selten  verabschieden sich in solchen misstonbegleiteten Fahrten vor allem Männer mit Handschlag.

Ich interpretiere das als Anerkennung, dass wir es zusammen in der meist kurzen Zeit einer Taxifahrt geschafft haben, einen Ausweg aus dem Konflikt zu finden und befriedet auseinandergehen können.

Ein Mann, den ich spät an den Flughafen fuhr, drohte anfänglich damit, die Taxifirma zu wechseln. Es lief dann wie beschrieben, und kürzlich holte ich bei seiner Firma wieder Leute ab. Die Drohung war also am Flughafen wirklich vom Tisch gewesen.

43. Steinalt und superfit

Ein altes, aber aufrechtes, ungebeugtes Frauchen winkt mit dem Stock. Behende steigt sie vorne in mein hohes Auto ein. Sie lobt mich überschwänglich für meine Freundlichkeit. An ihrem Ziel angekommen holt sie das Geld aus ihrem Portemonnaie im Tempo einer 30-jährigen und ohne Brille. Die drei Treppen zur chemischen Reinigung steigt sie flüssig hoch. Nachher will sie noch in einen nahen, belebten und mit Rolltreppen vollgestopften Grossverteiler einkaufen gehen. Beim Aussteigen hat sie mir verraten, dass sie in zwei Wochen 90 wird.

Wenn man die weit Jüngeren in Pflegeheimen sieht, dann ist diese gewaltige Diskrepanz nur schwer zu ertragen.

44. Wie man die Alten schröpft

Wer in ein stadtzürcherisches Alters-, Plege oder Blindenheim eintritt, der lasse alle Hoffnung fahren.

Eine 70-jährige ist aus einem ganz seltenen Grund erblindet. Sie hat als Kleiderverkäuferin gearbeitet. Sie ist ein Ästhetin, sie hat ein Auge für den Stil. Auch als Blinde will sie gepflegt sein. Wer indes ein paar Franken auf der hohen Kante hat, dem werden sie in diesen Heimen radikal abgenommen. Am Schluss haben sie ihr verboten, mit dem Taxi zu ihrer langjährigen Coiffeuse in dem Quartier zu fahren, wo sie gewohnt hatte. Dort traf sie beim Coiffeurbesuch regelmässig eine Freundin. Diese kann Tram und Bus auch nicht mehr mehr benutzen. Sie können sich nie mehr treffen, sie können nur noch telefonieren. So weit geht diese Diktatur.

In vielen Ländern ist die Pflegefinanzierung ein finanzielles Problem des Staates, der Allgemeinheit, des Steuerzahlers. Anders in der Schweiz. Hier nimmt man den Betroffenen, den Kranken, den Alten alle Geldmittel ab. Darum gibt es hier keine öffentliche Diskussion. Eine Frau, die ich kürzlich im Auto hatte, sagte darum, man sollte sich als alte  Person rechtzeitig arm machen, vererben, weitergeben, verkaufen. Denn wer arm in die Institutionen kommt, der erhält dort die gleiche Behandlung wie der, der den Institutionen viel bezahlt hat.

Diese Frau hat erzählt, sie hätten ihre Mutter aus einem Plegeheim herausgeholt, weil sie da mies behandelt worden sei. Sie stellten zwei Krankenschwestern ein und pflegten die Mutter zuhause bis zu ihrem Tod.

45. Viel Nichtwissen

Die Frau,  aus der Geschichte unmittelbar oben, die die ihre Mutter aus dem Plegeheim geholt hat, musste das Autofahren aufgeben, weil es ihr dabei schwindlig wurde. Ein Taxichauffeur hat ihr erzählt, dass ein Kollege aus dem gleichen Grund die berufliche Tätigkeit einstellen musste. Dieser liess sich untersuchen, ohne Resultat, ohne Diagnose und ohne Therapie. Denn, sagt sie, neben dem vielen Wissen gebe es viel mehr Nichtwissen.

Das stimmt offensichtlich, aber die Kehrseite davon ist, dass die geistige Welt voller Fragen ist, die uns ein Lebenlang beschäftigen können und unterhalten.

 

46. Eine kleine Wirtschaftsgeschichte

Quellen dieser Geschichte sind ein paar Handelsregisterauszüge, zwei Augenscheine und einiges an Fiktion. Die Namen sind erfunden.

1. Die Anfänge

Der 1943 geborene Xaver Zemp machte eine Lehre als Maler. Nach der Rekrutenschule und inzwischen 20-Jährig bekam er einen Job in der  Nachbargemeinde. Bald dachte er darüber nach, wie er selbständig werden könnte. 1968 trug er seine Firma im Handelsregister ein. Bald danach stiess ein Deutscher dazu, Ingo Lange. Seine souveräne Lockerheit traf auf die Hartnäckigkeit, das Geschick und das Aquisitionstalent des Schweizers. Jetzt ging es schnell bergauf. Zemp aquirerte und half überall, Lange schmiss den Betrieb und Zemps Frau sorgt im Hintergrund für Ordnung, in der Buchhaltung

2. Die Erfolgsjahre

Sie hatten Erfolg, weil sie sich nie zu schade waren, auch mal 24 Stunden durch zu arbeiten, wenn es sein musste. 1973 wurde der Deutsche an der Firma beteiligt, nochmal 5 Jahre später kam Zemps Frau dazu.

Im gleichen Jahr bezogen sie ein neues Betriebsgebäude, das sie nach dem Beispiel alter Fabrikbauten mit einem Zackendach bestückten. Vorne gab es Platz für den wachsenden Fuhrpark, hinten lagerten das Material und die Werkzeuge. Nur ein Jahr später kam ein Mehrfamilienhaus dazu, in das Zemps Familie und Lange einzogen und ein paar Mitarbeiter, die dazu gestossen waren. Im Zwischentrakt waren zwei Büros untergebracht.  Von da ab prangte eine neue, grosse, rote Leuchtschrift auf dem Dach des Betriebsgebäudes, das nahe an einen neuen Autobahnzubringer zu liegen kam. "Xaver Zemp AG" stand da gross und etwas kleiner "Gipser & Maler" darunter.

Im Jahre 2004, Zemp war also gerade 60 geworden, beteiligten sie ihren besten Mitarbeiter, den aus Italien stammenden Romano Guardia. Er ist Jahrgang 72, bei der Beteiligung also 32 Jahre alt. Ihm hatten sie den Internetauftritt zu verdanken, ohne den es nicht mehr ging.

3. Der Niedergang

Im Jahre 2009 traten Zemp, Zemps Frau und Lange aus dem Verwaltungsrat aus. Romano Guardia übernahm, mit Einzelunterschrift. Zemp war kränklich geworden und Lange litt unter einer Arthrose. Es wurde ihnen unmöglich, ihren Aufgaben gerecht zu werden, die auch körperliche Kraft erfordern. Sie wollten nämlich immer Vorbild sein für ihre Mitarbeiter und sie waren sich bis zuletzt für nichts zu schade.

Guardia kaufte die bisherigen Eigentümer mit einem Bankkredit aus. Bald danach zügelte er das Unternehmen in eine Nachbargemeinde. Bald danach änderte sich auch der Firmenzweck: Er bestand jetzt darin, Maler- und Gipserbedarf  zu verkaufen und eine Software für Maler und Gipser anzubieten.

Der kürzliche Augenschein ergab, dass sich im ehemaligen Betriebsgebäude eine Garage einrichtet hat. Am neuen Ort des Betriebes ist alles hermetisch abgeschlossen. Die beiden Zugänge zu einem offenen Hof sind mit Gittern zugestellt. Nirgends ist ein Name angeschrieben, keine Spur der Xaver Zemp AG, die es im Handelsregister noch immer gibt. Auf dem Hof steht ein einziger Farbkübel, hinter einer Plastikplane ist undefinierbares Material aufgeschichtet. Vor dem Haus steht ein alter Lieferkastenwagen, auf dem noch schemenhaft die Firma des Vorbesitzers zu sehen ist. Von Zemps Fuhrpark gibt es nichts mehr, auch der noch neue, kleine Pritschenlastwagen ist weg.

Eine Telefonnummer findet sich nicht mehr. Es bleibt abzuwarten, aber es ist absehbar, dass es im Handelsregister bald heissen wird: Xaver Zemp AG in Liquidation. Denn eine Firma, die sich vor ihren Kunden versteckt, kann nicht lange überleben.

Zemp und Lange wohnen noch immer in ihrem Mehrfamilienhaus. Sie sind enttäuscht über diese Entwicklung, aber tun können sie nichts mehr. Vielleicht raffen sie sich zum Versuch auf, wenigstens die Firma, den Firmennamen, zurückzuholen, so dass Guardia einen neuen Firmennamen annehmen müsste. Aber es dürfte einiges kosten. Sie überlegen, ob es das wert ist. Guardia meldet sich nicht mehr bei ihnen.

4. Rentnerdasein

Zemp, seine Frau und Lange jassen viel, oft kommt ein früherer Mitarbeiter dazu oder eines von Zemps Kindern. Abends haben Zemps noch immer oft einen Tisch voller Leute. Tagsüber bestimmen neben dem Alltagsbedarf zunehmend Doktorbesuche den Terminkalender. Noch immer reisen Zemps jedes Jahr nach Abano zur Kur.

Zemps zwei Kinder übrigens sind auch schon wieder selbständig, aber in ganz anderen Feldern: Der Sohn Andreas betreibt ein Tonstudio in der Stadt, zempsounds.ch genannt und die Tochter hat auf dieses Jahr einen bestehenden Coiffeursalon übernommen,  am Ort der Erfolge ihres Vaters und mit seiner finanziellen Unterstützung. Im Handelsregister heisst ihr Salon Karin Zemp GmbH. Seine Kinder wenigstens erfreuen Zemps Herz.

Gerade nächsten Sonntag kommen beide mit ihren Gschpänli zu Besuch und dann wird wieder nach Kräften politisiert. Für die Freundin von Andreas war das eine ganz neue Erfahrung, denn sie ein Immigrantenkind.

Lange übrigens ist längst eingebürgert, aus Überzeugung und in jeder Hinsicht und in vielem mehr Schweizer als fast alle.

Ein paar andere Forschungsergebnisse

1. Verschwinden schwierig

Aus dem Handelsregister zu verschwinden ist eine langwierige Sache. Das Telefon fehlt viel schneller, die Adresse ist bald ungültig und die Emailadresse funktioniert auch schnell nicht mehr.

Aus dem Handelsregister zu verschwinden ist auch darum schwierig, weil unzählige, internetbasierte Wirtschaftsauskünfte die untergegangen Firmen bewahren.

2.  Verschwinden feststellen

Wenn eine Firma telefon- und adress-seitig verschwindet, dann erlaubt der Handelsregisterauszug oft,  den Grund zu erahnen.

Wenn der erste Eintrag 40 oder 50 Jahre zurückliegt, dann ist ein geschäftsmässiger Rückzug auf Grund des Lebensalters anzunehmen. Als Beispiel ist eine Werbeagentur aufgefallen, die eng mit dem Namen des Betreibers verknüpft war.

3. Zweckänderungen

Zweckänderungen sparen eine Neugründung. Oft indessen ist im Hintergrund ein erstes Scheitern, und das Glück ist der Firma mit dem neuen Zweck oft auch nicht hold.

Ein Beispiel ist mir aufgefallen: Zuerst der Betrieb eines Privatspitals, dann ein Medienverlag. Der Medienverlag hat den Sitz später quer durch die Schweiz verlegt und ist jetzt bei einem Anwalt domiziliert. Es klingt nicht nach einer Erfolgsgeschichte.

4. Duo und Single. Beispiel Zemp

Ein funktionierendes Paar ist oft auch an der Quelle finanziellen Erfolgs. Wenn das Paar scheitert, scheitert oft auch die Firma.

Zemps Erfolg kam mit Lange und mit Zemps Frau, die ein starkes Trio gebildet haben. Guardia allein konnte das nicht leisten. Das hätte Zemp wissen können und er hätte diesbezügliche Massnahmen einleiten können. Aber das Alltagsgeschiebe hat die strategische Ebene verkümmert gelassen.

Als Beispiel ist eine Finanzboutique aufgefallen, wo er Verbindungen zu einer Grossbank hatte. Nach seinem Ausscheiden ging es nicht mehr lange. Der Versuch von ihr, die Firma an einem anderen Ort weiter zu betreiben, scheiterte bald.

5. Internetbasierte Irrtümer

Weil die internetbasierten Wirtschaftauskünfte, aber auch andere Auskunftsseiten, Vergangenes und Aktuelles gleichermassen aufbewahren, ist es oft schwierig herauszufinden, welches die aktuelle Richtigkeit ist, z.B. bezüglich der Adresse.

Noch schwieriger ist es, bei einem abgewickelten Unternehmen festzustellen, wann welche Gegebenheit herrschte, z.B. bezüglich des Ortes. Die Antwort auf die Frage, von wann bis wann dieses galt und von wann bis wann jenes, ist oft gut verborgen.

47. Ein CEO

An einer noblen Adresse, bei einem repräsentativen Haus hole ich einen Mann im besten Alter ab. Er heisst A. Er fährt zum Flughafen und er telefoniert zu kleinen, persönlichen, organisatorischen Themen. Er muss hablich sein – siehe Wohnort, aber nichts weist darauf hin, dass er eine bedeutsame Funktion bekleiden würde.

Drei Tage später kam der neue „Spiegel“. Darin fand ich diesen A. wieder, zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Dimitry Medwedjew stehend.

A., so erwies sich, war der Chef, der CEO, einer grossen, alten Industriefirma. Das Bild im „Spiegel“ stammte von der Eröffnung einer neuen Anlage dieser Firma in Russland.

Die Banker fahren ab der dritten Hierachiestufe nur noch in schwarzen, verdunkelten Limousinen herum. Völlig ausgeschlossen ist, dass sich der Chef einer grossen Bank in ein popliges Taxi setzen würde. Auch daran sieht man eine Abgehobenheit, wie sie der Realwirtschaft fremd ist. Da lobe ich mir A. und die Fabriken.

Die Bilder zeigen Verkabelungen und Ströme in männlichen (links) und weiblichen Gehirnen (rechts). Sie gehören zu Geschichte Nr. 31 weiter oben, erklären aber auch etwas zu Geschichte Nr. 26 oben und sie erhellen etwas zur Geschichte Nr. 48 ein bisschen weiter unten. Der Kommentar dazu steht bei Geschichte Nr. 31.

So ähnlich sah das Dach von Zemps Betriebsgebäude aus. Fertigelemente natürlich, zu seiner Zeit, nicht wie hier Ziegel.

 

48. Komplizierte Frauen

Nach einer Bemerkung in einem Essay von Christoph Scheuermann im „Spiegel“ Nr. 3/12 achten moderne junge Frauen panisch darauf, nicht als kompliziert zu erscheinen. Falls dem so ist, so ist leicht festzustellen, dass es nicht allen gelingt.

Kompliziert 1: Schlecht organisiert

Mein Fahrgast, eine junge Frau. Sie kommt zur Haustüre hinaus und ich lege  ihren Koffer in den Kofferraum. „Oh, ich muss nochmal zurück, ich habe etwas vergessen!“ Wieder zurück: „Ich fahre zu meinem Coiffeur an der Talstrasse, unmittelbar  hinter dem „Kaufleuten“. Ich: „Die Talstrasse liegt nicht unmittelbar hinter dem „Kaufleuten“. Dort ist je nach Blickrichtung die Nüschelerstrasse oder die Talackerstrasse.“ Sie: Ah, so heisst es dort. Wissen sie, wo der Brautmodeladen X ist?“.“Nein, leider nicht.“ „Da ist auch mein Coiffeur. Blöd, ich habe meine Handy vergessen, sonst könnte ich jetzt nachfragen!“

Ich finde nicht heraus, wo präzis sie hin will. Wir fahren die Talstrasse hinauf, wo nach ihrer ersten Version ihr Coiffeur sein soll. Sie erkennt dort keinen Coiffeurladen als den ihren. Wir kehren also  zurück auf eine der  Strassen, die unmittelbar hinter dem *Kaufleuten“ liegt. Auch an dieser Strasse ist der Coiffeur nicht. Wie entdecken hingegen Brautmodeladen. Aber ihr Coiffeur ist auch dort nicht. An den drei angegeben Orten also war der Coiffeur nicht. Sie sagt: “Er ist  doch der Talstrasse. Ich suche ihn zu Fuss!“ Sie steigt aus.

Sie wissen, wo ihr  Coiffeur ist und sie finden ihn, selbst wenn sie die Adresse nicht kennen. Wer bei beidem versagt, der Adresse und dem Ort, wenn zudem das eigene Orientierungssystem nach Verkaufsläden versagt,  wenn man einmal im Haus etwas vergisst und dann das Handy immer noch fehlt, dann lässt sich der Eindruck, kompliziert zu sein, nicht verhehlen.

Jemand hat eingewendet, dass sei vor allem Schusseligkeit. Einverstanden, ein Teil davon ist Schusseligkeit. Aber das städtische Orientierungssystem nach Verkaufsläden und Restaurants unter Ausschluss aller Strassennamen, erscheint als kompliziert, weil alle Welt anders tickt. Seinen Coiffeur  nicht zu finden ist eine schwere Lücke. Wäre die Frau alt, man wäre schnell bei der Hand von Demenz zu reden.

Sie hat einmal  entschuldigend gesagt, sie sei halt sonst in der Stadt immer mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs. Nur: Die Stadt ist dieselbe, ob man mit ÖV oder nicht unterwegs ist. Die Talstrasse und die benachbarte Talackerstrasse bleiben in ihrem Verhältnis zueinander bestehen – halbwegs Parallelstrassen, die bei der Sihlporte allerdings zusammenlaufen. Der Coiffeur ist an einer bestimmten Adresse, egal wie man anfährt. Diese Unfähigkeit, den Platz X wiederzuerkennen, obwohl man dieses Mal von einer ungewohnten Seite kommt, ist ein Schwäche, die das Leben kompliziert macht und wer dem unterliegt, der erscheint als kompliziert.

Kompliziertheit gibt es natürlich in einigen Varianten. Hier ein weiteres Beispiel.

Kompliziert 2 Mangelnde Flexibilität aus Selbstgerechtigkeit

A. Eine steigt aus.

Ich hole eine Frau ab ganz oben in Albisrieden. Sie will zu einer Adresse diagonal auf der anderen Seite der Stadt. Wie fast immer bei längeren Fahrten gibt es einige Varianten, das Ziel zu erreichen.

Ich beschliesse nach einigen Überlegungen meine Route. Schon nach der ersten Abzweigung interveniert sie und wünscht einen anderen Weg. Flexibel wie ich bin, gebe ich in solchen Fällen immer nach. Nur ganz, ganz selten gib es Krach. Dieser Fall ist mein einziger diese Art.

Nach dieser ersten Korrektur folgt eine zweite und eine dritte, bis ich beschloss, von dort, wo das passierte, wieder meinen Weg zu fahren. Es war mir zu bunt geworden. Sie begann zu zetern und zu fluchen und mir Unfähigkeit vorzuwerfen. Bei einem Hotel wollte sie aussteigen. Ich liess sie ziehen, froh, sie los zu sein.

Im Hotel riefen sie wieder ein Taxi für sie und der Auftrag landete wieder bei mir, weil ich noch nicht weit genug entfernt war. Ich lehnte ab.

B. Eine steigt um

Ich werde zu einer Adresse gerufen. Dort erwartet mich ein mir bekannter Kollege und sein Gast steigt zu mir um. Sie hatten Streit bekommen und um die Eskalation zu bremsen bot er an, einen anderen Taxi aufzubieten.

„Mein Gott“, beginnt sie „der ist mit mir im Kakao herumgefahren, unmöglich!“ Ich glaube ihr nicht, weil ich das dem Kollegen nicht zutraue. Ich fragte also: „Wie ist er denn gefahren?“ Es stellt sich heraus, dass er genau richtig gefahren war. Es gab kurz vorher eine neue Verkehrsführung, mit neuen Abzweigverboten. Ich fragte also weiter: „Wie wären sie denn gefahren.“ Es stellt sich heraus, dass sie einen grossen Umweg gemacht hätte und das sie, wegen der neuen Abzweigeverbote weit ins Abseits geraten wäre. Ich erklärte ein bisschen, stellte aber den Versuch bald ein, denn sie wollte Recht behalten.

Sie drohte noch, das Fehlverhalten des anderen Chauffeurs bei der Zentrale melden zu wollten. Also fuhr ich sie nachhause und ich telefonierte mit dem Kollegen, um ihm die Drohung mitzuteilen. Er beruhigte mich, er habe schon mit der Zentrale geredet.

49. Rätselhafte Bilder im Kopf

Ein älteres Paar will dem Umweg über den Letzigraben fahren, weil, sagt sie, dort am oberen Ende gebe es einen Metzger. Als wir dort oben langsam fahren, um den Metzger zu entdecken, bleibt der kollektive Effort ohne positives Ergebnis. Ich „Mir ist  nie aufgefallen, dass hier ein Metzger sei, aber wo ist der gesuchte Metzger?“ Weder ihnen noch mir fällt ein, wo der nächste Metzger ist. Sie fahren nachhause. Sie wollen ihn Morgen suchen.

In der Nähe gibt es keinen. Der nächste, klassische Metzger ist am Albisriederplatz (Hornecker) oder am Manesseplatz (Keller). An keiner der langen Ausfallstrassen in diese Richtung (Birmensdorfer-,  Altstetter-, Albisriederstrasse, Letzigraben, allenfalls noch Uetlibergstrasse) gibt es einen Metzger. An der Zurlindenstrasse gibt noch eine Koscher-Metzgerei.

Das Bild in ihrem Kopf kommt wahrscheinlich sogar aus einer anderen Stadt, denn auf der anderen Stadtseite gibt es keine vergleichbaren Strassen. Irgendwo in der Welt gibt eine Strasse, die dem Letzigraben  ähnelt und wo es einen Metzger gab. Es bleibt ein Rätsel, woher das Bild in diesen Kopf gekommen ist, das Bild eines Metzgers am oberen Letzigraben.

50. Einblick in eine Grossfirma

In einem Hotel hole ich drei Leute ab, einen Mann im mittleren Alter, eine junge Frau und einen jungen Mann. Sie fahren zu der Firma, die ihre eigene Grossfirma kürzlich aufgekauft hat. Es ist die Gelegenheit, in Ruhe über einiges zu Reden.

1. Zu jung

Der ältere Mann wird angesprochen von der jungen Frau. Er erzählt. „Ja, wir haben sie für zu jung gehalten, um bereits in eine Managementposition eingesetzt zu werden. Sie verlor leider die Geduld, als ihr ein Konkurrenzunternehmen eine Managementposition anbot. Kurz danach verliess uns unglückerweise auch ihre direkte Vorgesetzte, und jetzt hätten wir die andere gut gebrauchen können. Dumm gelaufen.“

2. Fehlende Ausbildung

Die junge Frau ist für ein Meeting zuständig, in dem ein Ausbildungsblock vorgesehen ist. Weil sie das nicht selbst bestreiten kann, bittet sie den älteren Mann, für einen Ausbildner zu sorgen. Er: „Der Beste wäre X, aber leider ist der vor ein paar Monaten zum Mutterhaus in den USA weggegangen. Das ist jetzt wirklich dumm“- es ist deutlich, dass er sich ärgert – die Guten nimmt man uns immer weg. „Aber ich werde mich darum kümmern.“

„Ich werde am Morgen bei diesem Meeting übrigens dabei sein, aber wie ihr wisst, habe ich schon eine Woche später einen neuen Job.

3. Fataler Fehler

Der junge Mann spricht den Älteren an auf seinen Einsitz in einem Sanktionengremium an. Er: „Ja, die Fallzahlen sind erheblich gestiegen. Wir müssen immer zuerst daran denken, was gegen aussen vorgekehrt werden muss, falls es einen Bedarf gibt. Aber diejenigen, die einen Fehler begangen haben, bekommen das auch zu spüren, wie zum Beispiel dieser Compliance Officer, der sich Urkundenfälschungen zuschulden kommen liess. Nichts Kriminelles, wie ich betonen will. Wir haben uns überlegt, ihn zu versetzen. Aber am Ende haben wir beschlossen, dass er gehen muss - nach 32 Jahren in der Firma!“

51. Das halbe Leben in derselben Firma

An einem Freitagabend hole ich eine Frau in einer Firma ab. Sie ist hübsch, schlank, gepflegt und schön angezogen. Sie bringt einen Früchtekorb und verschiedene, schön verpackte Pakete mit. Ich frage: „Gib es etwas zu feiern?“ Ja, sagt sie und steigt ein. Bald wird zu  meiner Überraschung klar, dass das Geschenke an sie sind. Sie hatte an diesem Tag ihren letzten Arbeitstag. Sie geht in Pension – nach vierzig Jahren in der gleichen Firma!

Sie ist mit ihrem Unternehmen dreimal umgezogen und sie hat den Verkauf ihrer Firma ins Ausland mitgemacht.

Wir schreiben Februar 2012. Sie halt also 1972 begonnen. Weil sie jetzt 63 ist, war sie beim Eintritt 23 Jahre alt. Sie hat vielleicht eine kaufmännische Ausbildung gemacht und das war vielleicht ihre zweite Stelle. Vielleicht aber lag noch ein Sprachaufenthalt dazwischen.

1972 waren die PCs noch gut zehn Jahre entfernt. Das Email war noch 20 Jahre entfernt und die Handys noch 30 Jahre. Sie hat in der Buchhaltung gearbeitet. Sie hat noch alles von Hand gemacht, vielleicht von einem Tisch-Rechner unterstützt, der halb so gross war wie ihr Pult.

Warum hört sie auf mit 63? „Die tägliche Hetze ertrug ich immer schwerer und als dann noch eine neue Buchhaltungssoftware kam, die mir Mühe bereitete, war es Zeit für mich zu gehen“.

„Was machen sie jetzt, haben sie ein Hobby? “Ja, ich reise gerne. Mein Freund spielt glücklicherweise mit. Wir haben noch grosse Pläne.“

So fit wie sie ist stehen die Chancen gut. Ich wünsche ihr viel Glück.

Als nette und letzte Geste hat ihr Arbeitgeber eine Taxicard* spendiert, mit dem sie ihre Geschenke nachhause fahren konnte.

* Taxicard - siehe Rubrik "Zahlmöglichkeiten". Zahlungsmittel der Alpha-Taxizentrale mit Rabatten. In vielen Firmen im Einsatz.

52. Ein Blitzerfolg

An einem Samstag winkt mich ein leicht korpulenter, junger Mann heran. Er hat sich, wie er erzählt, mit anderen selbständigen Handwerkern getroffen. Die anderen, sagt er, sind am Samstag ja nicht da. Nur wir Selbständigen. Dann erzählt er auf der Fahrt in ein Nachbardorf, was ihm in den letzten zwei Jahren passiert ist.

Er hat vor zwei Jahren eine Firma im EDV-Bereich gegründet, mit einer neuen Idee. Ein halbes Jahr später hatte er 16 Angestellte. Ein Jahr später stand der Vertreter eines grossen, deutschen Industrieunternehmens vor der Tür, das bei ihm Kunde gewesen war: Sie hätten schon lange ein Abteilung aufbauen wollen, um das herzustellen, was er mache. Er hat verkauft, ist jetzt ein reicher Mann und arbeitet als gut bezahlter Abteilungsleiter weiter. Er hält nur noch eine kleine Beteiligung am Unternehmen.

Diesen beispiellosen Gründerprozess hat er ohne Bankenkredit geschafft. Er hat schnell genug eingenommen, um das Wachstum aus eigener Kraft zu schaffen. Wer eine Innovation bringt, die den Unternehmen einen echten Mehrwert liefert, der kann sich dafür gut bezahlen lassen.

53. Schicksal pur

Ein grosser, schlanker, alter Mann kommt mit der Unterstützung eines Gehstocks zum Taxi. Dort erzählt er diese Geschichte.

An einem schönen, sonnigen Sommertag lief er mit einem Kollegen nahe bei sich zuhause über einen Fussgängerstreifen. Die Übersicht ist am Ort dieses Fussgängerstreifens aller bestens. Man sieht den Fussgängerstreifen von beiden Seiten von weit her. Als sie schon fast auf der anderes Seite waren, wurden sie trotzdem von einem Auto umgefahren und schwer verletzt. Seither braucht er den Stock.

Er ist auf diese Autofahrerin nicht böse. Die Ursache für den Unfall lag in einem bis zum Unfall nicht diagnostizierten Hirntumor, der der Frau einen Moment die Augen verschlossen hatte. Erst bei der Ursachenforschung wurde der Tumor entdeckt. Nicht lange danach, ist sie an diesem Hirntumor verstorben.

Der Unfall und die Verletzungen passierten, ohne dass jemand im moralischen Sinne Schuld dafür trägt. Niemand hätte daran etwas ändern können. Es war darum das pure Schicksal, das den Erzähler getroffen hat. Man könnte auch sagen das reine Pech.

Verantwortlich war die Fahrerin trotzdem und mein Fahrgast war jetzt, fünf Jahre nach dem Unfall, auf Weg zu einem Treffen mit seinem Anwalt und der Versicherung der Fahrerin. Bisher war noch keine Einigung zu erzielen gewesen. Er hoffte auf ein Ende, auf eine Lösung, denn er ist zwar versehrt, er leidet dauernd unter Schmerzen, aber sonst ist er gesund.

Das Bild stammt von Janette Herzog

Nachtrag zu Nr. 40 Geschichten aus der Prostituion

6. Ein Mann begründet

plus einem Mentalprogramm aus 20 Worten und einem Beispiel aus der Literatur.

Am späten Nachmittag eines Sommertages hole ich einen Mann in einem Hotel ab. Er will zur Langstrasse. Er ist nicht zum ersten Mal hier. Auf der Fahrt mäkelt er an seiner abwesenden Frau herum, sie kenne nichts und verstehe nichts. Darum freue er sich, wenn er auf Reisen sei, Frauen zu treffen, die alles kennten und als machten. Nein, in Nachtclubs gehe er nie, denn an kaltem Fleisch habe er kein Interesse. Darum der späte Nachmittag. Er ist ziemlich verstrickt und er weiss es nicht.

Mentalprogramm

Es gilt, in jeder Situation das Gute und Reizvolle mitzunehmen und so den Zirkel aus Erwartung und Enttäuschung zu unterlaufen.

Beispiel aus der Literatur

In Brigitte Kronauers Roman „Berittener Bogenschütze“ nimmt ihr Protagonist Matthias Roth, ein Literaturprofessor, einen Pflasterstein nachhause, den er magisch aufzuladen versucht, um seiner Existenz ein wenig Glanz zu verleihen. Vergeblich. Da steht auch unser Bordellbesucher. Der Wendepunkt übrigens heisst bei einigen Midlife Crisis.

54. Um Himmels Willen, Small Britannia

Kürzlich war eine englische Professorin mein Fahrgast. Sie hat erzählt, dass sie erst vor wenigen Tagen herausgefunden hätten, dass an ihrer Universität Professorinnen weniger verdienen als Professoren und dass auslandstämmige Professorinnen weniger verdienen als in England geborene.

In der Schweiz waren vor mehr als dreissig Jahren die Lehrerinnen eines Kantons vor Bundesgericht erfolgreich gewesen. Danach ging es noch darum, Ungleichheiten zu entdecken, aber gegenüber dem Staat ist die Gleichbezahlung seither kein Thema mehr.

Ein Staat indessen, wie das UK, der manifeste Ungleichheiten pflegt wie mit der Krone und dem adligen Umfeld, der eine Parlamentskammer mit erblichen Sitzen  aufweist , der die Gewaltenteilung bis vor wenigen Jahren nicht sauber durchgeführt hat – the House of Lords mit Rechtsprechungskompetenzen, der ist offenbar auch unfähig, das Thema der Gleichbehandlung der Geschlechter bis zur Lohnzahlung zu verfolgen und umzusetzen.

Immerhin spielt hier eine Rolle, dass die Universitäten in vielen Fällen nicht staatlich  verfasst sind, was immerhin eine liberalere Lösung darstellt als die hier getroffene. Ein entschiedener Staat dagegen wäre auch fähig, diesen eine Gleichbezahlung aufzuzwingen.

 

 

55. Einer regt sich über ein falsches Hotel auf

Im Stadtteil Enge hole ich ein junges Paar in einem Hotel ab. Sie wollen zum Flughafen. Sie sitzen beide hinten und sind ganz ruhig. Wir fahren der Dreikönigstrasse entlang zur Talstrasse, wo es nach links geht zur Stadtdurchquerung Richtung Flughafen.

An dieser Ecke, wo wir links abbiegen, dreht sich der Mann nach hinten, um die Talstrasse hoch zu sehen Richtung See. Dann dreht er sich um, schaut seine Begleitung an und beginnt zu zetern, zu schreien und zu motzen bis zum Flughafen.

Das hat er zusammengefasst gesagt:

„Da oben ist das Baur au Lac. Da hättest  du mich buchen sollen? Aber du Schlampe machst ja nichts richtig, nicht mal so eine kleine Hotelbuchung. Ich hatte doch gesagt, dass ich in Zürich ins Baur au Lac wollte, und nicht in dieses poplige andere. Wie viele Male muss ich noch sagen, dass du sorgfältiger werden musst! So geht es nicht. Nichts klappt wie es soll. Das ist doch ein Chaos sondergleichen. Kannst du denn nichts richtig machen. Wenn du nicht mal das kannst, wozu kann man dich gebrauchen. Muss ich das jetzt auch noch selber machen. Es ist ein Elend. Künftig muss ich alles nachkontrollieren, damit es dann  besser läuft. Mich ödet das an! Es ist das Allerletzte, eine Katastrophe. So will ich nicht weitermachen.“

Sie blieb ganz ruhig. Wenn sie eine Entgegnung einstreute, dann hob das Lamento noch lauter wieder an. Sie klang, als ob sie an solche Ausbrüche gewöhnt sei.

Bild: Das Baur au Lac in Zürich

 

56. Die Frauenfeindlichkeit der Businessfrauen und –Männer

1. Der reiche Pensionär

Bei einer Privatbank hole ich einen reichen Pensionär ab. Dass das zutrifft, ergibt sich aus dem Gespräch  mit einem Kompagnon, der einen Teil der Strecke mitgefahren ist.

Dieser Kompagnon frägt den reichen Pensionär, warum er seine Katie nicht mitgebracht habe.

„Oh“, sagt er darauf, „das habe ich ihr ausgeredet. Wir wären nie fertig geworden!“

2. Die Karrieristin

Die toughe Frau hat kürzlich einen guten Job bei einer grossen Versicherung angetreten. Sie war vom angelsächsischen Ausland in den Hauptsitz beordert worden.

Auf der Fahrt zum Flughafen telefoniert sie mit der Personalabteilung, denn sie will aus ihrem Team zwei Frauen entlassen. Sie hat keine Ahnung vom Arbeitsrecht  in der Schweiz und die Personalabteilung legt ihr Hindernisse in den Weg. Sie hadert, sie ist mit allen Abfederungsmassnahmen einverstanden, wenn die nur bald weg sind. Sie seien faul und untauglich, argumentiert sie. Sie behauptet, ihr Team komme ihrer wegen zu nichts.

Ihr Begleiter frägt einmal scheu, ob es unter den Männern keine Minderleister gäbe in ihrem Team. „Nein!“, sagt sie dazu, keiner sei so mühsam wie diese zwei Frauen.

Wenn man sie hört, dann kommt der Verdacht auf, dass die sogenannte Glass Ceiling, die den Frauen den Aufstieg erschwert, auch aus Frauen bestehen könnte.

3. Drei Banker

Drei amerikanische Banker fahren von einer Bank zu nächsten. Der Federführende wird gefragt, welches Meeting das nächste sei und was da zur Sprache kommen sollte. Sie besprechen ihre Strategie und ihre Rollen.

Danach führt der Federführende aus, sie würden dort auf eine Frau treffen, die sie alle kennen würden. Ihr Name führt zu einem Hallo unter den zwei anderen. Der Federführende ergänzt, sie halte sich für kompetent, sei es aber nicht. Jedes Gespräch mit ihr führe auf Abwege, man könne auf nichts fokussieren.  „Wir halten uns an unsere Rollen und wir halten sie draussen, wenn sie abzuschweifen droht.  Wir verständigen uns darüber mit Anblicken und Nicken. Diese Geste bleibt für alles andere gesperrt. Ich klemme sie dann ab und führe zum Thema zurück. Wir müssen so vorgehen, denn sonst verpassen wir unsere Flüge.“

Bild 1: Glass Ceiling Nr. 56  Bild 1: Bürgersymbol Nr. 57

 

57. Ein erstaunlicher Mann und ein guter Bürger

Ich kenne ihn schon lange. Er steigt immer beim gleichen Standplatz ein und fährt zur Arbeit.

Er kommt aus einem ostafrikanischen Land. Als Erwachsener ist er eingewandert. Er ist schon lange legal in der Schweiz. Er hat hier in Zürich bei einer Telefongesellschaft am Kundentelefon gearbeitet. Ist das nicht unglaublich! Er hat oft über den Ton geklagt, den er aushalten müsse und wie schwierig es sei, immer geduldig und freundlich zu bleiben.

Seine Telefongesellschaft machte dicht. Jetzt arbeitet er bei einer grossen Finanz- und Leasinggesellschaft, auch schon wieder ein paar Jahre.

Er ist verheiratet und er hat einen Sohn. Einmal hat er mir von seinen Erziehungsschwierigkeiten erzählt. Er versuchte ihm, als er noch Primarschüler war, die lupenreine Ideologie der Bürgerlichkeit einzuimpfen. Leider begreift der Sohn es nicht. Aber er war ein guter Schüler und jetzt ist er im letzten Lehrjahr in einem handwerklichen Beruf. Alles läuft wie geschmiert. Er überlegt sich, nach der Lehre den Weg an die Uni zu suchen. Er erzählt das im Tone der grössten Selbstverständlichkeit und er weiss, wie es gelingen könnte.

Er kennt dieses Land fast wie kein Zweiter. Er versteht, wie die Schweiz politisch tickt,  er kennt die Systeme, die Normen, die Geschichte, die Wirtschaft. Man kann trefflich politisieren mit ihm, eine eminent schweizerische Tugend. Er denkt und redet als wäre er hier geboren. Aber auch das hält er für die Normalität. Er denkt sicher, das könne man von ihm erwarten, wo er doch schon so lange hier ist.

Darum, weil wir immer politisieren müssen, habe ich ihn noch nie nach seiner Frau gefragt und ich habe ihn noch nie gefragt, ob er eingebürgert sei. Beim nächsten Mal erkundige ich mich. Wobei, eingebürgert oder nicht: Er ist ein Musterbürger!

Nachtrag vom 13.10.12: Ein lokale SVP-Grösse sagt im Fernsehen, die Afrikaner würden mit der Absicht, kriminell zu werden, in Schweiz einwandern. Jetzt, und das war diese Woche in der Zeitung, ermittelt die Staatsanwaltschaft. Das obige Beispiel zeigt, wie kreuzfalsch solche Generaliserungen sind. Wahr ist das genaue Gegenteil: Fast alle Afrikaner, die legal in der Schweiz leben, arbeiten, um ein besseres Leben zu haben. Sie verhalten sie genau so wie die meisten hier Geborenen. Habe ich die Geschichte vom falschen Ticket schon erzählt? Ich muss es nachprüfen. Ergebnis: Nein, sie steht unten unter ZIff. 62.

58. Geschlossene gegen offene Gesellschaften

Es ist eine heikle Sache. Darum muss ich etwas ausholen.

Totalitäre Regimes beeinflussen ein Verhalten, das Täuschen und Lügen fördert. Das geschieht auch indirekt, dann auch eine Opposition muss im Geheimen operieren und das Geheimnis notfalls mit Lug und Trug schützen. In der kommunistischen Sowjetunion gab es die geheime Literatur, Samisdat genannt. Dieser Untergrund zeigt auch, dass die Wahrheit und das Richtige nicht untergehen, sondern in diesem Untergrund gehütet werden. Viele aber bleiben in ihrem Verhalten auch nach dem Untergang der totalitären Systeme, gefangen in ihren frühen Erfahrungen, dass es nur mit Lügen und Betrügen geht und dass dieses Verhalten legitimiert ist.

Wenn die Emigration aus diesen totalitären Systemen auf eine offene, demokratische Gesellschaft trifft, dann fällt dieses Verhalten natürlich auf, weil es vom üblichen Verhalten abweicht, das in offenen Gesellschaften von Vertrauen und Offenheit geprägt ist. Das abweichende Verhalten, in dem das Lügen alltäglich ist, fällt nicht nur auf, es wirkt störend.

1. Geschichte: Sofort entlarvt

Das Taxi, das zuerst an einen Standplatz kommt, darf den ersten Kunden fahren. Es spielt unter den Taxifahrern dabei keine Rolle, wer zuvorderst steht. Da der Kunde diese Situation nicht erkennen kann, werden Kunden oft zu einem anderen Taxi geschickt, zu dem, der zuerst da war.

Beim Taxi, das nach mir gekommen war, steigt eine Person ein. Der Fahrer kommt zu mir mit der Erklärung, es handle sich um eine Bestellung. Ein paar Sekunden später kommt ein anderer seiner Gesellschaft. Dieser hat den Auftrag und er zwingt den Kollegen, seine Kundin abzutreten. Der Kunde steigt um.

Mir gegenüber hat der Fahrer gelogen. Er musste mir gegenüber lügen, weil er die Kundin sonst hätte mir abtreten müssen. Er hat seine Interessen mit einer Lüge geschützt, statt sich fair zu verhalten. Auch gegenüber seinem Kollegen hat er sich fehlverhalten.

2. Geschichte: Übervorteilung ok.

Ich stehe mit einem Auftrag vor einem Hotel im Kreis 6. Zwei auswärtige Taxis stehen ebenfalls dort. Einer der Fahrer, ein Schweizer, frägt mich, wie man von hier am besten zur nördlichen Autobahn komme. Ich erkläre es ihm. Der zweite kommt dazu und erkundigt sich bei seinem Kollegen, was er mich gefragt habe. „Bah!“ meint er, „das braucht man doch nicht zu wissen“. Lieber irrt er zulasten seines Kunden ein bisschen herum.

3. Geschichte: Türken bis die Balken brechen

Im Kanton Zürich vergibt eine Stiftung an Behinderte, Verunfallte und ältere Leute, die den öffentlichen Verkehr nicht mehr benutzen können und die zusätzlich Einkommens- und Vermögensgrenzen nicht überschreiten, Taxigutscheine.

Diese Gutscheine kommen in unterschiedlichem Ausfüllungsgrad zu uns. Datum und Adressen können die Inhaber dieser Gutscheine selber ausfüllen. Manche tragen auch den Betrag nach der Fahrt noch selber ein. Andere hingegen unterschreiben nur und geben uns den Gutschein im Übrigen blank.

Ein ehemaliger Kollege hat in diese blanken Gutscheine konsequent Fernziele und hohe Kosten eingetragen, ganz egal, wie lange und wie teuer die Fahrt war. Das hat er solange betrieben, bis die Stiftung darauf gekommen ist und ihm die Annahme dieser Gutscheine verboten hat.

Derselbe hat, was ich von einer Nachbarin erfahren habe, einen Hauswartjob angenommen und konsequent keinen Finger gerührt, bis es auffällig geworden ist. Jetzt ist er den Job los.

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Allen diesen Geschichten ist gemein, dass es kein justiziables Verhalten ist, das jedenfalls niemand deswegen vor Gericht geht. Und allen ist gemein, dass die Missetäter aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen.

Vor Gericht kam vor einigen Jahren ein Taxifahrer, der mit den Gutscheinen einer blinden Frau schamlos betrogen hat. Aufgeflogen war er, weil er noch Gutscheine eingereicht hatte, als die Frau schon lange gestorben war. Er wurde verurteilt.

59. Eine Kämpferin

Eine kleine Kulturgeschichte

Auf dem Weg in ihr Altersheim erzählt mir eine alte und etwas angeschlagene Frau wichtige Teile ihres Lebens.

Ich schätze sie 80. Vor 60 Jahren war sie eine junge Frau. Das bringt uns zum Anfang der 50igerjahre. Geboren ist sie demnach um 1930.

Vor also rund 60 Jahren traf sie im Ausgang, ich glaube in der Bierhalle Wolf, falls es die damals schon gab, auf einen attraktiven Mann, der Verdi-Arien und volkstümliches Liedgut sang, zwischendurch. Es war sein Hobby. Er sang so süss, dass sie hin und weg war. Beim nächsten Mal am selben Ort sang er für sie. Er kündigte an, er sänge für die hübsche Frau am hintersten Tisch. Danach setzte er sich zu ihr. Er war charmant, wohlwollend und an ihr interessiert. Sie ging mit ihm hoch, sie wurde schwanger und gebar einen Sohn.

Von diesem Mann hörte sie nie wieder. Er wich ihr aus und verleugnete sich.

Sie zog dieses Kind als alleinerziehende Mutter auf. Sie arbeitete praktisch Tag und Nacht, um durchzukommen. Sie arbeitete als Köchin.

Ihr Sohn ist ihr ein und alles. Er hat eine gute Ausbildung und einen guten Job und er kommt zweimal die Woche vorbei.

Ihr Leben hat sie in einen Kampfmodus gebracht und sie sagt explizit:“Man muss kämpfen, immer und bis zu Ende.“

Es bezieht sich heute auch auf ihr Angeschlagen sein, ein sanfter Hirnschlag hat sie gestreift, Fuss und Hand einer Seite sind beeinträchtigt.

Ein Nebenschauplatz ihres Kampfes ist das gute Essen, denn als Köchin, sagt sie, kann ihr die Altersheimküche nichts bieten. Sie kocht alles auf ihrem Zimmer und sie geht regelmässig auf den Markt einkaufen.

Ein anderer Nebenschauplatz ist ihr Aussehen, denn man muss, wie sie sagt, proper aussehen und angezogen sein. Das gehöre sich so. Ihre Achtung gilt den jungen Frauen, die sich gepflegt geben und die gut angezogen sind.

Es ist ein Zeitchen her, es ist in meiner Erinnerung hochgestiegen. Ich habe sie nie mehr getroffen.

In der Bierhalle Wolf am Limmatquai 132 spielte die Musik seit 1892 eine grosse Rolle. Noch heute spielt dort täglich eine Dreimann-Combo.

  

60. Ein selbständiger Junge verirrt sich

Am Bahnhof Hardbrücke kommt ein Junge. Sein Kopf erscheint knapp in der Seitenscheibe. Ob ich ihn nach  Affoltern fahren könne. Natürlich, in welches Affoltern, den Stadtteil oder das Städtchen am  Albis. Zum Stadtteil.

Auf dem Weg erzählt er in lupenreinem Bundesdeutsch folgendes: Er habe im Internet einen Friseur in Zürich gesucht und einen in Affoltern gefunden. Dann sei er irrtümlicherweise ins Städtchen Affoltern gefahren. Jetzt sei er zurückgefahren und beim Bahnhof Hardbrücke ausgestiegen. Damit es zeitlich noch reiche, habe er sich für einen Taxi entschieden. Den Coiffeur hat er angerufen, er schert ihn auch später noch.

Ich frage ihn, ob er denn Zürich kenne. Er verneint. Sie wohnen sei seit vier Jahren in der Schweiz. Wohnst du nicht in der Stadt? Nein, in Uster. Aber gehst du hier zur Schule? Nein, in Uster, in die 1.Sek. Warum dann in Zürich zum Friseur? Seine Mutter arbeite auf einer Bank in der Stadt. Was für einen Job sie da hat, das wusste er nicht.

Als er ausstieg, schob er nach: Hoffentlich hat es sich wenigstens gelohnt!

Die Kinder der Alleinerziehenden werden schnell selbständig. Er zeigte eine Weltläufigkeit, wie man sie bei nicht Erwachsenen selten sieht. Nichts brachte ihn in Panik. Er löste eins nach dem anderen, völlig cool, überlegt und zielbewusst. Der Mutter wird er erzählen, der sei am Nachmittag beim Friseur gewesen. Gut, wird die Mutter sagen, es war auch Zeit. Danach kommen am TV die Tagesthemen und sie regen sich gemeinsam über den politischen Stillstand auf in der BRD.

61. Frauen in einer kalten Welt

1. Vom Ausgang

An einem frühen Freitagmorgen steigt am Central eine junge, schöne Frau ein, gross, halblanges, gewelltes Haar, gertenschlank.

Zuerst sagt sie, in etwas gebrochenem Deutsch, sie sei etwas betrunken. Dann will sie einen Pauschalpreis in ihr Dorf und drückt mir eine Menge Kleingeld in die Hand. Als es nicht reicht, kramt sie lange ihn den Taschen ihrer shabyschicken Jeans und bringt noch ein paar Noten an den Tag. Ich behandle sie ziemlich unfreundlich. Sie erzählt, dass sie im Mascote war

Sie sagt wie sie fahren will. Wir fahren durch die noch dunkle Nacht über viel Autobahn. Ich sage ihr, dass man weit günstiger in ihr Dorf fahren könne, falls sie wiedermal ein Taxi nehme. Zwischendrin führt sie ein  frenetisches, lautes Telefon in ihrer östlichen Heimatsprache, mit ihrer Schwester. Sie wünscht Musik und ich hole Swiss Pop vom DAB-Radio. Die dort üblichen Schnulzen gefallen ihr.

Plötzlich legt sie eine Hand auf meinen Oberschenkel und dreht dabei  ihr schönes Gesicht frontal auf mich. Ich weiss schlagartig, dass die Kälte der Welt aus ihr dringt. Es ist ein Flehen. Ich lasse ihre Hand und bald sind wir am Ziel. Sie will noch küssen, hinterlässt ihren Namen und eine Telefonnummer.

Das anonyme Aussenquartier verstärkte das Kältegefühl noch über die serielle Architektur. Dahin verschwand sie. Ihre Schönheit hilft ihr nicht. Immer gerät sie an die Falschen.

Ich kann sie nicht retten. Sie hat auch nie angerufen.

 2. Schönes Auto

Mein Auto ist frisch gewaschen. An einem sonnigen Tag warte ich auf eine Kundin. Plötzlich steht eine junge Frau vor mir und sagt: Sie haben ein schönes Taxi!  Es stimmt, von vorne ist das Auto auffällig elegant Es fehlt auch eine Dachreling, was den Eindruck verstärkt. Am anderen Tag kommt eine offensives, nicht identifizierbares SMS. Als ich nachfrage schreibt sie zurück, sie sei diejenige, die mein Taxi so schön fand.

Auch sie kann ich nicht retten. Ich habe nicht mehr reagiert.

3. Bitteres Fazit

Sie ist pensioniert und sie ist finanziell abgesichert. Als sie vor ein paar Monaten nachhause gekommen sei, sei ihr schwarz geworden vor den Augen und sie die drei Treppen ein paar Meter vor ihrem Eingang hinuntergefallen. Seither hat sie Gleichgewichtsprobleme und ein Auge hat Schaden genommen, so dass sie nicht mehr so gut sieht. Sie nimmt sich in Acht, wenn sie in die Stadt gehen muss, sie trifft Vorsichtsmassnahmen. Sie erzählt ein bisschen aus ihrem Leben. Sie blieb immer allein. Sie habe mit ihren Freundinnen immer lustige Einladungen geschmissen, aber seit das nicht mehr gehe, habe sie von keiner je wieder gehört. "Das kann ich ihnen sagen" schiebt sie nach, "mit den Leuten ist es nicht schön." 

4. Ein Unterschied

Aus diesen drei Geschichten ergibt sich ein deutlicher Unterschied. Die beiden jüngeren Frauen trauen sich, selber etwas zu unternehmen, in die Offensive zu gehen, um nicht dem Schicksal ausgeliefert zu bleiben oder das wenigstens zu versuchen. Die Pensionierte dagegen formulierte: "Als ich sah, dass ich allein bleiben würde..." Es hat sich etwas getan zwischen den Generationen. Bleibt die Frage, ob das am grossen Bild etwas ändert, oder ob die Welt bleibt wie sie ist, kalt für viele, für viele nicht Beziehungstalentierte.

62. Afrikaner in der Schweiz

1. Flugticket roto

Am Flughafen, damals war es noch illegal, steigt eine schwarze Frau ein. Sie ist entnervt: Ihr Flugticket hat nicht funktioniert. Sie fährt wieder zurück und schimpft auf ihren Partner, der wieder etwas gemischelt habe. Es sehe ihm ähnlich. Haben sie schon geschumpfen mit ihm? Nein, sie dürfe ihn bei der Arbeit nicht anrufen.

Bei einem Indoorkiosk steigt sie aus.

Später sehe ich, dass sie ihr Handy im Auto liegen gelassen hatte in ihrer Aufregung. Weil ich nicht weiss, wo sie wohnt, fahre ich andertags wieder zu diesem Kiosk. Er wird von einem schwarzen Afrikaner geführt.

Jaja, sagt er, er kenne die. Ihr Mann komme oft nach der Arbeit vorbei um Lotto zu spielen. Ihm gebe er das Handy.  Dann reisst er seinen Getränkeschrank auf und offeriert mir ein Fläschchen.

Nicht ihm habe einen Gefallen getan. Ich fand das super.

2. Food zum Football

An der Militärstrasse, glaube ich, hole ich einen Afrikaner ab. Er lädt Gekochtes ein aus der Küche einer Frau aus seinem Heimatland, die das als Geschäft betreibt: Kochen für die Kompratioten. Über kurz riecht das ganze Auto. Er ist gross und stark und, wie er erzählt, seit 20 Jahren mit einer Schweizerin verheiratet. Heute ist Fussball-WM und er hat ein paar Kollegen eingeladen, um einen Match zu kucken. Dafür dieses Essen aus der Heimat. Er machte einen ausgeglichen und fröhlichen Eindruck. Er freute sich auf den Abend. Und er sprach ein ausgesprochen gutes Deutsch.

Soviel zu den kriminellen Afrikanern des Herrn Heer.

Auch die Nr. 57 erzählt von einem erstaunlichen Immigranten aus Schwarzafrika.

Nie, weder persönlich noch unter den Taxikollegen, hatte ich Kalamitäten mit Afrikanern, ganz anders als mit der Immigration aus Ex-Jugoslawien , wozu in Nr. 58 ein paar Müsterchen erzählt werden, und mit einzelnen Schweizern.

Bild: In so einer Überbauung verschwand die Schöne.

Bild: Der Indoor Kiosk an der Stauffacherstr. 145

63. Superman

An einem Samstagmorgen im Winter, früh um 0630 Uhr, steigt am Central in Zürich ein junger Mann ein, klein, leicht gebückt. Zuerst checkt er sein Handy und führt es dazu ganz nah an seine Augen. Ich frage ihn, ob es mit einer Brille nicht leichter wäre. „Dochdoch, aber ich habe sie zuhause vergessen.“ Superman braucht im Ausgang keine Brille.

99% der Fahrgäste, die am frühen Samstagmorgen einsteigen, haben einen Alkohollevel, mehr oder weniger. Sie kommen aus dem nahen Niederdorf, wo sie wahrscheinlich in der „Gräbli-Bar“ die Nacht ausklingen liessen. Nicht so mein Gast: Er war komplett nüchtern, obwohl er im Ausgang war. Dass man im Niederdorf und in allen Bar-Lokalitäten dort ein Glas mit Alkohol in der Hand hält, ist quasi-obligatorisch. Unseren Gast kümmert das nicht.

Der kürzeste Weg zu seinem Domizil ist zufolge einer Baustelle gesperrt. Die nächste objektive Möglichkeit, nach rechts abzuzweigen, ist verboten, Einbahn. „Ach was, Einbahnen gibt es für mich nicht. Die Widerhandlung kostet 100 Franken, aber ich habe noch nie bezahlt. Wenn mir einer entgegenkommt und mich anzündet  - mit den Scheinwerfer blinken -, dann zünde ich zurück und schon sind wir aneinander vorbei“.

Er ist Student und wohnt ein paar Meter neben der Kanonengasse, die gewissermassen das verrufene Langstrassenquartier nach Osten abgrenzt. „Hier wohne ich billig, das Haus ist voller Nutten, was mir gefällt,  ich habe 21/2 Zimmer für mich allein und wo ich wohne ist schliesslich egal.“

Er geht seinen eigenen Weg, im Kleinen und wahrscheinlich auch im Grossen. Die Meinungen der anderen kümmern Superman nicht. Er kann selber denken, er hat eigene Themen, viel wichtigere natürlich. Ich wünsche im hier und mental viel Glück.

64. Geschichte eines Gewaltopfers

1. Auftritt

Sie braucht viel Zeit, um die Wohnungstür  der Parterrewohnung zu schliessen. Wir sind bei einer Alterssiedlung in einem Aussenquartier der Stadt.  Der rechte Fuss steckt in einer Art Therapieschuh, der linke steckt nur in einer dicken Wollsocke. Oben trägt sie eine unförmige, viel zu grosse Jacke, darunter ein violettes Polohemd. Wirr hängen noch eine paar Kabel an ihr, die zu einem portablen CD-Player gehören. An einem Invalidenstock gehend schleicht sie an und setzt sich hinten ins Auto.

Auf dem Weg in die Stadt taut sie immer mehr auf und sie erzählt mir ihr Leben mitsamt den Kalamitäten, sie erzählt nicht in der Reihenfolge, wie sie hier zu stehen kommen. Ich habe die Bruchstücke arrangiert.

2. Herkunft

Sie stammt von einer kenianischen Mutter und einem weissen englischen Vater ab. Sie ist in Kenia geboren. Sie spricht indessen einwandfreies Schweizerdeutsch, muss also bald hierher gezogen sein.

Sie sei, sagt sie, eine modebewusste Frau gewesen mit einem Job in der Modebranche. Sie muss eine Superfrau gewesen sein, gross und wohlgeformt. Beide ihre Elternteile waren Riesen.

3. Gewaltopfer

Auf dem Heimweg von der Arbeit wurde sie eines Tages, wahrscheinlich, weil sie eine Farbige ist - im Sommer sei sie halt ziemlich dunkel -, an einem Stadtbahnhof Opfer von Fussballhooligens, die ihr eine präparierte Flasche ins Gesicht schmissen. Die Splitter verletzten ihre Augen schwer. Sie verlor das rechte Auge komplett und links sieht sie noch 80%.

4. Existenzverlust

Die Kausalitäten kenne ich nicht im Einzelnen, aber ich nehme an, dass sie dieses Ereignis aus der Bahn warf, dass sie wahrscheinlich ihren Job verlor, weil sie ihn mit diesem restlichen Augenlicht nicht mehr ausfüllen konnte, dass sie lange im Spital war.

5. Aktuelle Lage: Abhängig und überempfindlich

Heute jedenfalls ist sie kokainabhängig und schwer invalid. Sie hat denn auch eine Invalidenrente. Denn in so einem Kokainrausch – es sei versetztes Kokain gewesen – sprang sie vom Dach eines Mehrfamilienhauses. Und wie fast alle Drögeler säuft sie auch. In der Innentasche ihrer Jacke hatte sie eine offene Bierdose mitgeführt.  Das Polo und die Jacke waren in der Folge grossflächig nass.

Sie ist hochemotional, oft bringen sie Kleinigkeiten fast zum Weinen: Dass sie zu wenig Schmerzmedis mitgenommen hat, dass sie den zweiten Stock hätte mitnehmen sollen, dass sie das Geld im Auto verlegt hatte, dass sie die mitgenommene CD nicht mehr fand, alles brachte sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Aber mental ist völlig intakt, sogar hell und intelligent.

Im näheren Umfeld der  Langstrasse organisiert sie sich ihr Kokain fürs Wochenende.

6. Rückfahrt und Ende

Auf der Rückfahrt sagt sie: Ich möchte dir eine Sängerin vorstellen. Ich stelle mir was für einen Geheimtipp vor! Es ist Katie Melua. Ihre Super -Cd von 2007 (Paradise) will sie ganz laut hören. Sie singt alle Lieder wörtlich mit. Ihre Stimme ist gut und schön.

Als wir uns wieder dem Ausgangsort nähern sagt sie bittend: Komm, wir fahren noch weiter, jetzt habe ich endlich mal einen, der neutral ist und mich nicht verurteilt. Ich wehre ab und wir machen nur noch einen kleinen Umweg. Von Katie Melua hatten wir vier Stücke gehört. Sie räumte das Chaos, das sie hinten angestellt hatte, zusammen und schlurfte ihrer Haustür zu.

65. Wahn und Wirklichkeit

Vor ein paar Jahren habe ich fast regelmässig eine dunkelhaarige Schönheit von einer jungen Frau aus der Schule abgeholt und nachhause gefahren. Sie fuhr Taxi, weil sie im Rollstuhl sitzt. Nach der Schule begann sie eine KV-Lehre in einer Schule für körperlich Behinderte, wo alles Inhouse stattfindet,  Schule und Praxis.  Sie verliess die Schule schon bald mit der Begründung, sie müsse auf ihre Familie Rücksicht nehmen. Ich verstand das damals nicht.

Ich habe auch andere aus dieser Schule wieder getroffen. Sie haben gute Jobs und einer fährt zwischenzeitlich in einem Spezialumbau Auto.

Die Familie der jungen Frau wohnte in einer grossen, schönen Wohnung im Parterre einer neueren Siedlung. Die hatten sie wahrscheinlich ihretwegen. Nicht selten sass eine vielköpfige  Runde in der ausladenden Sitzgruppe vor schweren Vorhängen im Wohnzimmer, in einer Art Zwielicht , Mutter, Vater, Brüder, Verwandte, Kollegen, in lauten Diskussionen versunken, schwarzen Kaffee vor sich, über allem dicker Rauch. Sie kamen  aus der Türkei. Ich dachte, sie betrieben wahrscheinlich einen erfolgreichen Kebab-Stand in der Stadt, gut integriert und weit vernetzt.

Kürzlich, also Jahre später,  erhielt ich einen Auftrag im Niemandsland zwischen Schlieren, Dietikon und Urdorf. Es war wieder einmal die dunkelhaarige Schönheit von damals, jetzt blond.  Sie ist verheiratet und hat einen Sohn. Von ihrem Mann erzählte sie nur Gutes,  von ihrer Familie dagegen gab es nichts Gutes zu erzählen.

Ihr Vater hatte eine Spur von Einschüchterung, Drohung und Gewalt hinterlassen. Nix von einem Kebab stand, nix von guter Integration.  Auch ihre Mutter wurde geschlagen.  

Als meine Schönheit auszog, klagte die Mutter gegen ihren Vater.  Er wurde, nicht zum ersten Mal, verurteilt und des Landes verwiesen.  Mutter hatte einen Depressionsschub. In der schönen Wohnung lebt niemand mehr von ihnen.

Sie hatte den Laden wirklich zusammengehalten, weil sie das konnte, umgänglich, luzid und alert wie sie ist, und weil die Behindertenwohnung einen selbstverständlichen Hebel bot.  Jetzt hat sie ihre eigene Familie, ihr eigenes Projekt.  Ich wünschte ihr viel Glück.

Zum Bild: So einen sportlichen Rollstuhl fährt die Rollstuhlfahrerin aus der vorstehenden Geschichte, denn sie ist klein und leicht. Zwischen den Rollstühlen gibt es grosse Unterschiede, was wir Taxifahrer beim Einladen feststellen, Ungetüme und Rennmaschinen.

66. Szenen einer Stadt

In drei Anschlussaufträgen, also fast gleichzeitig, zeigten sich drei Szenen einer Stadt.

Kurz nach 0700 Uhr steigt eine witzige, komplett nüchterne Frau am Central ein, um zu ihrem Arbeitsplatz in der Nähe des Helvetiaplatzes zu fahren. Sie wohnt an der Rosengartenstrasse, am verkehrslauten Teil. Wir hatten also zu reden.

Als sie dort aussteigt, werde ich von vier jungen Frauen gekapert. Sie kommen aus dem Nachtleben, alle sind betrunken und sehr laut. Sie reden wirr durcheinander. Das grösste Hallo entsteht als eine verkündet, sie habe noch eine intakte Flasche Jack Daniels dabei. Sie gehen zur nahen Wohnung von einer von ihnen an der Seebahnstrasse, um weiter zu trinken.

Der nächste Auftrag führt mich zu einem Appartementableger eines Hotels in der Nähe es Manesseplatzes. Dort wartet eine vielköpfige, arabische Familie mit viel Gepäck. Ein Kollege ist schon dort. Im Kofferraum meines Taxis werden sechs grosse Koffer verstaut. Er ist voll bis zum Dach. Vier Erwachsene und ein Junge im Alter eines Schulkindes quetschen sich in das Auto. Sie sind fröhlich und plappern freundlich miteinander. Eine junge Frau, die Englisch konnte, hatte den Lead und sie bezahlte am Bahnhof. Die erste Etappe auf der Heimreise war geschafft.

67. Ein spezieller Immigrant

Mit 17 Jahren kam er ein paar Jahre nach Mauerfall und Wende aus Dresden allein in die Schweiz. In einem Fünfsternhotel in der Stadt Zürich kann er eine Kochlehre antreten. Er wohnt in einem Personalzimmer. Nach erfolgreicher Lehre schickt in sein Küchenchef zu einem Kollegen ins Berneroberland. Er müsse noch anderes sehen und kennenlernen.
 

Bei diesem Chef fühlt er sich akzeptiert und wohl. Aber auch dieser sagt nach zwei Jahren, er solle weiterziehen. Er geht wieder in ein Fünfsternhotel in Arosa. Auch bei diesem Chef läuft es gut und er ist zufrieden. Nach wieder zwei Jahren verlässt dieser Chef seine Küche, um wieder ins Unterland zu gehen. Der nachkommende Chef ist arrogant, überheblich und schwierig. Er geht zum Direktor. Er halte es nicht aus mit dem neuen Chef, er müsse gehen.


Anderthalb Jahre hilft er im Raum Zürich mal da mal dort aus.


Anderthalb Wochen, bevor er bei mir im Taxi sitzt, hat in ein Anruf aus Arosa erreicht, ob er nicht wieder kommen wolle. Der üble Küchenchef sei nicht mehr da und übrigens: Der neue Chef sei der alte aus dem Berneroberland. Er freute sich ungemein, er freute ich darauf, in Arosa weitermachen zu können, er freute sich, mit dem alten Chef weiterarbeiten zu dürfen, er freute sich, weil er in Arosa weniger Geld ausgebe als in Zürich. Bei digitec an der Förrlibuckstrasse holt er seinen neuen Laptop ab, custom made und ziemlich teuer.

68. Ein Familie leidet unter einer Psychotin

An einem trüben Tag werde ich an die Berner Strasse Süd geschickt, praktisch schon an der Autobahn Richtung Aargau, West- oder Nordring. Dort im Hinterhof kommt eine junge, schwarze Frau auf mich zu mit der Warnung, die Mitpassagierin könnte ausfällig werden.

Sie steigen ein und fahren ins Burghölzli. Die Mitpassagierin redet ohne Punkt und Komma, ziemlich wirr und mit vielen Wiederholungen. Sie beschwört ihre Begleitering, sie brauche noch jenes Kleidungsstück, dann aber sei sie die glücklichste Frau. Die Begleiterin behandelt sie geschickt, erzählt auf Nachfrage ein Grimm-Märchen und so kommen wir an.

Weil ich die Geschichte kennen will, fahre ich die Begleiterin nachhause.

Die wirre Frau ist ihre Schwester. Ihre Diagnose lautet auf Schizophrenie kombiniert mit Borderline-Symptomen. Sie ist gelernte Krankenschwester und sie ist mit Drogen abgestürzt, nur die Familie hat keine Ahnung, um welche Drogen es sich handelt.

Weil die das Gesundheitswesen kennt, kann sie immer wieder aus der Anstalt entkommen. Sie verkauft die gehorteten Medikamente an der Langstrasse und dann verreist sie. Wo immer sie ist, sie wird über kurz auffällig. Auf dem Bahnhof Bellizona hat sie sich mal splitternackt ausgezogen. Die Familie erhält dann einen Anruf von der Polizei, sie holen sie wieder und bringen sie ins Burghölzli, wo sie oft nicht mal wissen, dass sie fort war.

Die Familie leidet noch in anderer Hinsicht. Einmal hat sie einer Tante die ganze Stube blau angemalt und argumentiert, man müsse sie in ihrer Maltherapie unterstützen. Viele in der Familie fürchten sich vor ihr, weil sie auch gewalttätig werden kann. Neben ihrer älteren Schwester ist die Begleiterin die einzige, die mit ihr umgehen kann.

Sie selber ist auch Krankenschwester und sie hat einen guten Job in einem Stadtspital. Es sind wehrhafte, gut integrierte Immigranten, die jetzt dieses Kreuz zu tragen haben. Sie tun mir leid

69. Der Schuhverkäufer

An einem sonnigen Sommertag, einem Samstag, steigt am späten Nachmittag am Bucheggplatz ein junger Mann ein, gross, massig, ein richtiger Kerl, noch keine zwanzig, denn er ist noch in der Berufslehre.

Am Morgen hat die Chefin angerufen, ob er einspringen könne, die Verkäuferin, die hätte kommen sollen, habe sich krank gemeldet. Er ist bereitwillig darauf eingangen, hat sich quer durch die Stadt gekämpft, um rechtzeitig zur Ladenöffnung da zu sein. Es wurde ein famoser, erfolgreicher Tag für den Schuhladen, der übrigens nur Frauenschuhe verkauft. Bei Ladenschluss hat ihm die Chefin gedankt für seine schnörkellose Bereitschaft und für seinen Einsatz, sie hat ihm Geld in die Hand gedrückt und gesagt, sie zahle ihm das Taxi, um nachhause zu fahren.

Die Vorstellung, dass so ein Riese in einem kleinen Frauenschuhladen arbeitet, ist witzig. Interessant auch, dass er ganz naiv davon erzählte, dass eine Frau jeden Samstag aufkreuze und Schuhe kaufe. Ich sagte, eine Schuhfetischistin, was in fast vom Stuhl riss. Was! Eine Schuhfetischistin! Aber sicher, ist ja kein seltener Fall - erinnert sich noch jemand an Imelda Marcos?

Als man nach der Revolution in Lybien die Gemächer des Diktatoren zu sehen bekamm, betörte der teure Kitsch, als in der Ukraine Janukowitsch kürzlich türmte, zeigte man uns den Park der Edelkarossen und als Diktator Marcos in den Philipinnen zu Fall kam, sahen wir Imeldas Schuhkabinett, hunderte von Laufmetern Schuhe.

70.  Roller-Unfall, was soll's!

Am einem Samstagmorgen steigt ein etwa dreissigjähriger Mann ein. Er erzählt mir, dass er seinen lädierten und jetzt geflickten Roller abolen gehe. Er fährt in eine Gemeinde am rechten Seeufer.

Er wollte an einem schönen Tag in einer Steigung, wo die Lastwagen besonders langsam sind, einen solchen überholen. Er weiss nicht mehr, was im Einzeln passiert ist, aber er kam vom Weg ab und wurde in eine Wiese katapultiert. Im passierte nichts, er blieb dank der weichen Wiese unverletzt, aber sein Roller war arg lädiert.

Dann dozierte er ein bisschen darüber warum man unmöglich eine neue Vespa kaufen könne. Seine sei auch eine Vintagemaschine. Man müsse halt in Kauf nehmen, dass das eine oder andere anfalle und repariert werden müsse. Das wäre bei einer neuen schon besser, aber wie gesagt, er würde sich unwohl fühlen mit einem fabrikneuen Roller.

Dann haderte er lange mit den Kosten der Reparatur. Es kostet ihn mehr als er für den Roller bezahlt hat. Das sei doch ein glatter Irrsinn, für so einen Blechschaden so viel zu verlangen. Es sei ja nur ein kleiner Roller! Er könne sich nicht vorstellen, wie diese Kalkulation laufe, es sei ja so wenig Blech an der Maschine. So lamentiert er ein Weile vor sich hin.

Dann plötzlich: „Was solls, ich kann es mir ja leisten! Ich verdiene ziemlich gut und diese Reparatur bringt mich nicht in Schwierigkeiten“

Er fährt weiter: „Ich glaube, ich ärgere mich über meinen Fehler.“

Dann freute er sich spontan und tief, dass er jetzt seinen frischgebügelten Roller wieder bekommen würde.

(Die Geschichte ist verwandt mit "Das Geld der jungen Männer" in 40. Geschichten aus der Prostitution, Nr. 8. oben)

72. Hochschule Taxi

Unsere Kunden sind oft Akademiker mit Spezialistenwissen, das man als Taxifahrer anzapfen kann. Man kann ja mal fragen und oft wird es interessant.

Am Samstag holte ich ein Pärchen am Flughafen ab, ziemlich früh. Weil sie weg gewesen waren fragte ich, ob sie die Aufgabe der Eurobindung bei 1.20 durch die Nationalbank mitbekommen hätten. Ja, hatten sie. Dann fragte ich, ob sie den Grund dafür kennen und verstehen würden. Dann diskutierten wir bis auf die andere Stadtseite und jetzt war mir klar: Der Plan der EZB (Europäische Zentralbank), Staatsanleihen aufkaufen zu wollen, hatte den Euro unter Druck gesetzt. Der Druck komme im Einzelnen daher, dass alle Marktteilnehmer wüssten, dass diese Staatsanleihen nichts wert seien. Die Differenz zwischen dem bei 1.20 fixierten Franken und dem Wert des Euro wurde so gross, dass die Verteidigung bei 1.20 so viel gekostet hätte, das es auch die Nationalbank überfordert hätte.

Und übrigens, bei allem Lamento müsse doch gesehen werden, dass der Eingriff der Nationalbank für die Wirtschaft gewesen wäre, aber gegen die Konsumenten, und wie schlimm die Folgen auch seien, sie würden gemildert dadurch, dass der Einkauf für Firmen und Individuen günstiger werde. Das sähe man jetzt. Mein Lehrer, ein Nationalökonom, dachte indessen, es hätte auch anders kommuniziert werden können. Seine Freundin folgte unserem Diskurs mit viel Wohlwollen und Belustigung, und ein paarmal griff sie in die Diskussion ein.

Nein, sagte mein übernächster Gast, ebenfalls Nationalökonom, das hätte nicht anders kommuniziert werden können, weil bei einer Vorankündigung die Turbulenzen an den Devisenmärkten noch stärker ausgefallen wären. Dann wusste er auch noch, dass die Aufgabe der Goldbindung und die Auflösung der Bretton Woods Vereinbarungen 1973 auch über Nacht bekannt wurde und auch damals gingen Interventionen im Devisenbereich voraus, im Verhältnis zum Dollar. In gewissen Situationen müsse überfallartig informiert werden, weil die Alternativen schlimmer wären als der Schock. Wer heute lautstark motze, der verstünde das Geschäft der Nationalbank nicht.

Und heute Montag hatte ich einen Banker im Auto, der noch ergänzte, das einfachste sei immer, die Märkte spielen zu lassen und der Devisenmark sei ein Markt. Eingreifen müsse nur, wer nicht an diesen Markt glaube. Der Euro bleibe unter Druck, solange die ökonomische Situation und die Staatsschuldenprobleme im Euroraum nicht gelöst werden. Er arbeitet bei einer Grossbank und dort glaube man, der Euro werde zwischen einem Franken und 1.20 schwanken.

Alle drei verstanden die Nationalbank und billigten deren Entscheid und Vorgehen.

Ganz anders ein anderer Gast am Samstag. Das seien doch Lümmel, eine Zumutung sei das, das werde schlimme Folgen haben. Bei ihm sei gerade ein Auftrag hängig, der jetzt wahrscheinlich scheitern werde. Im Euroraum hätte die Firmen kein Geld mehr. Sie könnten nicht mehr investieren. Er sehe schwarz. Ein Rezession sei unvermeidbar.

73. Das richtige Land

Ein Amerikaner und seine erwachsene Tochter steigen am Bellevue ein, um zum Dolder Grand zu kommen.

Seine Tochter raschelt mit Bonbon-Paper. Er sagt, sie lebe von Bonbons. Ich darauf, ich lebe von Schokolade.

Darauf er: Da leben sie im richtigen Land!

Er sei ein Fan von mechanischen Uhren. Darauf ich, das gehe mir gleich. Ich kaufe ab und zu eine Uhr

Darauf er: Ich muss schon wieder sagen: Sie leben im richtigen Land!

Was denn meine wertvollste Uhr sei. Ein Tissot Chronometer. Er nickt anerkennend. Und, was ist sein wertvollste. Er: Eine Omega Seamaster.

Das wäre auch meine Traumuhr, aber als armer Taxifahrer werde ich das nie haben.

Dann haben wir bis zum Dolder politisiert. Er fand es lustig und interessant und er bedankte sich beim Aussteigen für die unterhaltsame Fahrt.

Das passiert ab und zu, wenn das Gespräch gut läuft. Oft verabschieden sich vor allem Männer dann mit Handschlag, aber kürzlich ist mir das auch mit einer Frau passiert.

 

Hier Text eingeben.

74. Ein- und dieselbe Person

Am frühen Morgen hole ich in Zürich-West einen jungen Mann ab. Ob er da wohne, frage ich ihn. Nein, er habe bei einem Kollegen übernachtet. Ui, das ist aber eine Wohnung: Gross, doppelstöckig, zu oberst mit schöner Aussicht. Nie habe sein Kollege davon etwas von dieser Superwohnung gesagt, so bescheiden und zurückhaltend sei er. Ein guter und umgänglicher Kumpel sei er. Darum habe er ja auch hier übernachten dürfen.

Im Kreis 6 hole ich mit dem nächsten Auftrag einen Mann ab, der zu dem Gebäude fährt, wo ich den anderen abgeholt habe. Ich erzähle davon. Diese Wohnung kenne ich, sagt mein Gast darauf. Er arbeitet bei der Gesellschaft, die das Gebäude verwaltet. Er kenne auch diesen Mann, ein elender Schnösel, grössenwahnsinning und abgehoben mit seinem Maserati in der Tiefgarage. Vonwegen bescheiden und zurückhaltend. Dabei habe er die Wohnung geerbt, dieser...Schimpfwort, hier nicht wiederzugeben.

Ja-Ja, ein und dieselebe Person! Ich möchte ihn mal kennenlernen, um mir selber ein Bild zu machen. Es kann schon passieren, denn die Beratungsgesellschaft, wo er arbeitet, ist Kunde bei meiner Taxizentrale.

 

 

75. Eine Stadt-Katze probt das Überleben

Wenn ich frühmorgens am Schaffhauserplatz stehe, dann beobachte ich zu weilen eine Katze, die dort lebt.

Dazu muss man sagen, dass auf der Hofwiesen-Seite zwei, teils drei Autospuren gegen den Platz zulaufen, dazu zwei Paar Tram-schienen. Auf der Seite der Schaffhauserstrasse fahren andere Tramlinien und die Schaffhauserstrasse führt vom Platz weg. Die Katze lebt in dem Haus, dass in diesem Zwickel steht aus zulaufenden Strassen und Trams. Natürlich und erschwerend kommt dazu, dass es insgesamt drei Tramhaltestellen gibt.

Wenn die Katze von der entfernteren Seite der Hofwiesenstrasse zum Zwickelhaus wechseln will, dann hat sie dafür drei Techniken: Wenn Leute am Fussgangerstreifen stehen, dann orientiert sie sich an den Fussgängern. Wenn das aber nicht der Fall ist und der Verkehr fliesst, dann geht sie die drei Treppen zum einem Hort hoch, immer mit dem Blick auf die fahrenden Autos. Dort oben beobachtet sie, bis die Autos vor dem Rotlicht des Fussgängerstreifens stehen und dann düst sie über die Strasse. Und oft kreuzt sie freihändig: Wenn kein Auto fährt dann wechselt sie die Seite ausserhalb des Fussgängerstreifens, bei der Post oder beim kleinen Coop.

Auf der Seite der Schaffhauserstrasse hat sie es leichter, denn dort vor ihrem Haus gibt es nur eine Strassenspur. Allerdings fahren die Trams auch dort, aber die sieht sie von weitem, weil die Trams gross sind, hoch und gut beleuchtet. Die Strasse dort überquert sie mit denselben Techniken.

Mit anderen Worten: Die Katze lebt nicht gerade in einem Habitat der idealen Katzenumgebung. Aber sie hat schon viele Jahre überlebt.

Der langjährige Mitarbeiter des Kiosk dort hat mir erzählt, dass sich die Katze auch schon getäuscht hat. Sie wurde schon mehrfach angefahren. Sie hat nur noch den halben Schwanz von so einem Unfall. Tödlich aber verlief es nie.

Ich wünsche ihr noch ein langes Leben am verkehrs-umtosten Schaffhauserplatz!

76.) Ein Leben am Friesenberg oder das alter Zürich

Der Friesenberg ist ein Quartier im Süden der Stadt Zürich. Es ist grob gesagt das Dreieck zwischen Goldbrunnenplatz, Uetlibergstrasse, Birmensdorferstrasse und Schweighofstrasse. Die Friesenbergstrasse zieht senkrecht nach oben mitten durch das Quartier vom Goldbrunnenplatz zur Schweighofstrasse und darüber hinaus.

Kürzlich holte ich hoch oben am Friesenberg ein altes Pärchen ab. Das Männchen wirkte ziemlich angeschlagenen, aber sie war noch putzmunter. Auf der Fahrt zu einem Arzt erzählte sie, dass sie nahe bei der Station der Uetlibergbahn aufgewachsen ist. In die Sekundarschule ging sie nahe beim Goldbrunnenplatz, wo die jetzige Kantonsschule damals noch eine Sekundarschule war.

Alle alten Frauen in Zürich frage ich, ob sie im Perla tanzen gegangen seien. Das Perla war der In-Ort für die Teens and Twens von etwa Jahrgang 20 bis 40.

Sie bejaht. Und wen hat sie dort getroffen? Ihren Mann, der am anderen Ende des Friesenbergs aufgewachsen war. Sie haben geheiratet und eine Wohnung oben am Friesenberg bezogen. Sie hatten zwei Kinder, die beide in der Kantonsschule beim Goldbrunnenplatz Matura gemacht haben.

Und jetzt sind es alte Leutchen, die beide ihr ganzes Leben in diesem Quartier gelebt haben.

Natürlich gingen sie für gewisse spezielle Einkäufe in's Stadtzentrum. Sie sagten bestimmt: "Heute gehen wir in die Stadt". Aber Oerlikon im Norden der Stadt oder das Quartier Affoltern haben sie vielleicht nie besucht, mit Ausnahme vielleicht der Züspa am Rande Oerlikons. Und im Morgental gingen sie vielleicht mal ins Kino. Das Perla und das Kino gibt es nicht mehr. Und ihr Lieblingskleiderladen Ober ist heute das Casino. Und der Franz Carl Weber, wo sie das Spielzeug für ihre Kinder gekauft haben, ist nicht mehr an der Bahnhofstrasse.

77.) Die Gesellschaft zerfällt

Aus einer Todesanzeige geht hervor, dass die Verstorbene 54 Jahre in derselben Firma gearbeitet hatte. Am nächsten Tag hatte ich  den Autor dieser Todesanzeige im Auto, den Chef dieser Firma. Er erzählte mir, wer diese Todesanzeige unterschrieben habe: Ein Göttikind und die neue Frau ihre geschiedenen Mannes. An demselben Tag wie die erste Todesanzeige ging einer anderen hervor, dass eine Cousine und ein Cousin eine gemeinsame Cousine begruben.

Es ist ein Indiz, ein konkreter Hinweis auf den Zerfall der Gesellschaft in dem Sinne, dass die persönlichen Beziehungen verarmen. Es ist eine Veränderung, vieleicht nicht schlimm, aber trotzdem.

 

78.) Der Kampf um die Liebe

An einem schönen Frühlingstag hole ich am Löwenplatz eine jungen, noch fast bübisch aussehende Mann ab. Die Finanzfirma hatte bestellt, die oberhalb des neuen Footlokers-Ladens schon lange einen Standort hat. Als er gerade einsteigen will, schiesst aus dem Laden eine junge Angestelle aus diese Laden heraus und sie reden kurz miteinander.

Als er im Auto sass fragte ich ihn, ob das seine Freundin sei. Nein, sagt er, er habe sie vorher nie gesehen, aber man wisse ja nie.

Nicht schlecht! Ein junger Mann, der für eine Sitzung einfliegt, hat normalerweise keine Zeit, ein bisschen durch die Stadt zu streifen (siehe dazu auch Geschichte 30). Sie hat ihn also wahrscheinlich gesehen, als er mit ein paar Kollegen am Mittag etwas zum Essen holte. Dann zögerte sie keinen Augenblick, als sich die Gelegenheit gab, ihn anzusprechen. Nicht schlecht.

Viellicht zeigt sich in dieser Beherzheit eine Reaktion auf die Verarmung der persönlichen Beziehungen. Die wenigen Gelegenheiten gilt es zu nutzen. Wo kein Anfang, da keine Liebe!  

79.) Fröhliches Taxi

Kürzlich habe ich einen Vater aus den USA und seine zwei Söhne beim Hauptsitz der Fifa oben abgeholt. Sie wollten eigentlich ins Fifa Museum in der Enge, hatten die Fifa-Standorte aber verwechselt.

Kaum waren sie alle im Auto, fragte der ältere der beiden Burschen, was denn in meiner Musiksammlung an Hiphop da wäre. Ich spielte "Loose Yourself" von Eminem an. Die Burschen fingen an mitzusingen, Wort für Wort. Auch "Places to go" von 50 Cent kannten sie gut.

Der ältere der beiden ist Bayern-Fan, der jüngere ist Dortmud-Fan.

Sie waren am Morgen eingeflogen und um 1400 mussten sie wieder am Flughafen sein.

Beim Museum angekommen sprinteten sie über die Strasse ins Museum. Sie waren in Eile. Es war eine fröhliche Taxifahrt!

80.) Auf Messers Schneide

 

An einem der letzten Donnerstage brachte ich jemanden nach St. Moritz.

Ab Zürich bis Chur und weiter regnete es. Ich fürchete mich davor, dass es über den Julier schneien würde und dass das Auto würde stecken bleiben in der ersten ernsthaften Steigung hinter Tiefencastel. Bei Landquart prangte ein grosse Tafel an der Autobahn, dass nur 4x4 Autos zum Vereinatunnel fahren dürften. Das trug nicht zu meiner Beruhigung bei.

Als wir in Thusis Richtung Julier abzweigten, hörte der Regen auf. Es ging gut weiter. Etwas höher am Julier, hinter Bivio wurde die Strasse glitschig und eisig. Vorsichtig hangelten wir uns hoch. Dennoch gab es kleine Rutscher.

Als die Passhöche erreicht war, jubelten mein Gast und ich gleichzeitig. Der Rest war Formsache und ich lieferte meinen Passagier im Hotel Palace im Zentrum von St. Moritz ab. Es war 1800 Uhr und natürlich dunkel.

Jetzt stand die Rückfahrt an. Der Julier war noch eisiger und noch gefährlicher. Ich hangelte mich vorsichtig bis Tiefencastel, wo ein Tankstellenshop noch offen war. Mit einem Coci und einem Sandwich gings nachhause, wo ich erleichtert ankam. Geschafft, ohne Blechschaden oder noch Schlimmeres!

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